Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
zu eigen gemacht haben. Und dann weiß man aus der Hirnforschung, dass solche Muster prägend sind, weil diese Erfahrungen damals ja auch eng emotional gekoppelt waren. Und so ist es dann auch heute: Wo es emotional wird, wo eine starke persönliche emotionale Arbeit stattfindet, wo Beziehungsarbeit notwendig ist, dort wird es dann schwierig, diese alten Vorstellungen abzulegen.
Katharina Saalfrank: Eine intensive Beziehungsarbeit ist also notwendig in Familien, aber auch in den Kindertagesstätten und Schulen. Dann geht es um Eltern, Erzieher und Lehrer?
Gerald Hüther: Ja. In Familien oder auch in Institutionen, wenn es Konflikte gibt. Da, wo es sehr unter die Haut geht, da fallen Menschen in ihre alten physiologisch vorhandenen Muster zurück, die damals auch in einer strengen und starken emotionalen Kopplung im Gehirn entstanden sind.
Katharina Saalfrank: Andererseits erlebe ich Menschen, die Verantwortung übernehmen und durch eine Form der inneren Arbeit diese alten Muster auch verlassen können. Bedeutet das, dass das Gehirn auch später noch so dynamisch ist und Gehirnstrukturen sich verändern lassen? Man ist nicht – so wie man früher dachte – »programmiert«, und bestimmte Sachen gehen dann eben nicht mehr, lassen sich nicht mehr verändern, sondern man kann in dem Augenblick, in dem man sich selbst erkennt und andere Erfahrungen macht, auch neue Verknüpfungen im Gehirn herstellen?
Gerald Hüther: Ja, das kann man – aber das ist eben anstrengend! Und da muss man Verantwortung übernehmen und kann nicht mehr so weiterleben wie bisher. Und deshalb will das keiner, und deshalb ist es schöner, an die Theorie zu glauben, dass sich das eben nicht mehr ändern lässt.
Katharina Saalfrank: Dann gibt man lieber Verantwortung ab.
Gerald Hüther: Genau, deshalb begrüßen die meisten Menschen auch angebliche Erkenntnisse aus der Hirnforschung, die ihnen erzählen, man könne nichts dafür, man sei eben festgelegt.
Katharina Saalfrank: Ich empfinde das, was Sie als Paradigmenwechsel in der Hirnforschung beschreiben, als entlastend – gerade auch für die Arbeit mit Kindern und Eltern. Zum einen die Botschaft, dass wir nicht genetisch »programmiert« sind, zum anderen aber auch die Erkenntnis, dass wir die Köpfe von Kindern eben nicht beliebig mit Wissen vollstopfen können. Meine Erfahrung ist, dass Kinder dann ohnehin irgendwann abschalten und nichts mehr aufnehmen. Dennoch will Schule immer mehr Wissen in immer kürzerer Zeit vermitteln. Ist das für das Gehirn konstruktiv?
Gerald Hüther: Das Entscheidende, was ein Kind lernt, ist nicht das Wissen, das ihm angeboten wird. Sondern das Wichtigste für das Gehirn sind die Erfahrungen, die man am eigenen Leib macht. Daraus entstehen die neuronalen Verknüpfungen im Gehirn. Die Hirnforschung wird keinen Beitrag dazu leisten können, dass wir ein »besseres Hirn« bekommen. Das ist die Vorstellung aus dem vorherigen Jahrhundert, als man noch geglaubt hat, Gehirne seien wie Computer oder Maschinen und ließen sich optimieren. Manche essen ja heute noch irgendwelche Pillen und nennen das Hirndoping, damit sie noch bessere Leistungen erzielen. Das Einzige, was die Hirnforschung wirklich kann, ist, uns vor Augen zu führen, welche Voraussetzungen von uns selbst geschaffen werden müssten, damit diese Potenziale, die in uns und vor allem in den Kindern angelegt sind, auch tatsächlich entfaltet werden können. Selbsterkenntnis! Das ist es.
ADHS – aus der Sicht eines Neurobiologen
Katharina Saalfrank: In meiner Praxis bekomme ich auch immer wieder sogenannte ADHS-Kinder vorgestellt. Diesen Kindern fällt es oft schwer, ihre Impulse zu kontrollieren. So werden sie von ihrer Umwelt als ungeduldig, aufbrausend und aggressiv wahrgenommen. Ich erlebe diese Kinder meist als tief verunsichert, voller innerer Unruhe, auf der ständigen Suche nach dem Gefühl, so anerkannt und angenommen zu werden, wie sie sind, und auf der Suche nach konstruktiven Beziehungserfahrungen. Ich bin sehr skeptisch, wenn Mediziner postulieren, dass diese Symptome aus einer genetischen Veranlagung resultieren. Was können Sie als Neurobiologe dazu sagen?
Gerald Hüther: Es gibt in den tieferen Bereichen des Hirns motivationale Systeme, die nach oben drücken: Hunger, Durst, Bewegungsdrang, Schlaf, sich weit wegträumen. Das sind alles Dinge, die kommen von unten als Impulse, als Affekte. Und oben drüber liegt – salopp gesagt – das Kontrollsystem, die Affektkontrolle. Das sind die
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