Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Hyperaktivität.
Katharina Saalfrank: Das fällt dann häufig erst mal nicht ganz so stark auf. Es stört ja auch nicht massiv.
Gerald Hüther: Das stimmt. Aber es hat in dem einen wie im anderen Fall die gleiche Folge: Das Kind kann der gemeinsamen Aktivität, die wir Unterricht nennen, nicht mehr folgen.
Katharina Saalfrank: Aus meiner Erfahrung geraten diese Kinder dann in einen Teufelskreis. Denn durch das ständige Erleben, ausgeschlossen zu sein oder auch negativ aufzufallen, bemühen sich diese Kinder doppelt, dabei zu sein, in Gruppen hineinzukommen und sich anzupassen – das misslingt, und dann beginnt die Spirale. Diese Kinder erzählen von ihrem Gefühl, wie schwierig es in ihrer Lebenswelt oft sei, dass sie nie so sein dürften, wie sie eigentlich seien. Dass sie eben immer das Gefühl hätten, sie seien nicht o. k., so wie sie sind.
Wenn ein Kind zu Hause oder auch in der Schule immer das Gefühl hat, es kann machen, was es will, es bekommt trotzdem keine Hinwendung, keine Zuneigung, keine Wertschätzung, keine Anerkennung und es entspricht nie den Erwartungen der Umwelt, dann sieht man irgendwann auch diesen Kampf um Bedürfnisbefriedigung deutlich. Bei diesen Kindern entsteht eine permanente innere Unruhe. Sie sind oft misstrauisch und immer auf der Hut, haben Angst, etwas zu verpassen, wollen alles gleichzeitig machen – immer mit dem Ziel, irgendwo (vor allem: emotional) anzukommen, Anerkennung zu bekommen und so zur Ruhe zu kommen. Bei dieser Unruhe entstehen dann natürlich eine Menge Störungen für die Umwelt, und die ohnehin schon schlechten Erfahrungen potenzieren sich dann schnell. Die Chance, dann noch gute Erfahrungen zu machen und die fehlenden Erfahrungen in Fähigkeiten umzusetzen, ist verschwindend gering. Das ist aus meiner Sicht das eigentliche Drama.
Und wenn dann die Krankheit ADHS diagnostiziert wird, ist das oft für alle eine passende Erklärung, und die Erleichterung ist groß: »Ach, so! Es ist krank, das Kind.« Und somit ist die Verantwortung, auf sich selbst zu schauen und die eigene Beziehung in Zusammenhang mit dem Verhalten des Kindes zu reflektieren, abgegeben. Es scheint ja auch gar nicht mehr nötig. Weil das Verhalten des Kindes ja biologische, nicht beeinflussbare Ursachen zu haben scheint.
Ich bin keine Medizinerin, aber aufgrund meiner beruflichen Erfahrung meine ich sagen zu können, dass ADHS eine Diagnose ist, die inflationär ist.
Gerald Hüther: Ja, weil sie bequem ist. Und viele Eltern, Erzieher und Lehrer haben den Nutzen dieser Diagnose erlebt.
Katharina Saalfrank: Dabei habe ich bei allen Symptomen, die ich bei Kindern gesehen habe, immer wieder auch nachvollziehbare Erklärungen aus dem Beziehungsgeflecht gefunden, warum die Kinder so sind, wie sie sind! So habe ich das Verhalten des Kindes immer als einen ganz wichtigen Hinweis darauf gesehen, was in den Beziehungssystemen zu Hause oder auch in der Schule los ist.
Aber um eine Verbesserung der Gesamtsituation zu erzielen, bekommen dann in der Praxis viele Kinder Medikamente. Einige Eltern scheuen sich, viele greifen unter dem Druck der Situation aber auch zur Pille. Oft auch ohne zu wissen, welche Auswirkungen das hat. Meist wird Methylphenidat verordnet. Wie genau wirkt das im Gehirn?
Gerald Hüther: Diese sogenannten Psychostimulanzien führen dazu, dass die Impulse, die von dem inneren Antriebssystem ausgehen – dem sogenannten dopaminergen System, das dazu da ist, die inneren Impulse in Handlungen zu übersetzen –, gehemmt werden. Wenn man also ein Bedürfnis hat, dann wird automatisch das dopaminerge System aktiviert, und dann befriedigt man das Bedürfnis. Methylphenidat wird oral verabreicht, in niedriger Dosierung. Und man weiß aus Tierversuchen, dass es zu einer Hemmung der impulsgetriggerten Dopaminfreisetzung führt. Das kann ich an dieser Stelle nicht bis ins letzte Detail erklären. Aber was da passiert, wenn man es oral einnimmt: Man schaltet dadurch das dopaminerge System, dieses Antriebs- und Verstärkersystem, ab. Es wirkt nicht mehr. Da kann ein innerer Impuls kommen, es wird kein Dopamin freigesetzt, und deshalb wird auch keine Handlung ausgelöst. Man ist dann jemand, der seine inneren Impulse nicht mehr umsetzt.
Katharina Saalfrank: Das heißt, dass das Kind, das einen bestimmten Impuls hat, diesen nicht mehr umsetzt und dadurch besser »funktioniert«.
Gerald Hüther: Lassen Sie uns noch kurz bei Menschen bleiben, die diese Stoffe nicht wegen ADHS einnehmen, sondern
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