Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Kurve kriegen. Aber die Pubertät wäre eine gute Chance.
Katharina Saalfrank: Die Pubertät wäre eine gute Chance – oder aber: Ich sehe auch beim Schuleintritt eine Chance, wenn da ein Lehrer ist, der sensibel ist und darum weiß und in dieser Gruppe Räume dafür bereitstellt, in denen auch ein Nachholen solcher Lernerfahrungen möglich ist; dann ist es auch möglich, diese Kinder zu integrieren mit ihrem Verhalten.
Gerald Hüther: Das wäre jedenfalls eine Möglichkeit. Aber natürlich wenden sich die Lehrer auf der Suche nach Aufklärung an Weiterbildungsangebote, Bücher und Ratgeber. Und diejenigen, die dann diese Bücher, Ratgeber und Weiterbildungsangebote liefern, sind häufig eben diejenigen, die ihnen erzählen, das sei ein genetischer Defekt, da komme es darauf an, dass der möglichst schnell diagnostiziert werde – und dann kommt es zur Ritalin-Verabreichung. Damit ist der Kreis geschlossen. Deshalb fällt vielen Lehrern in einer Situation, in der sie solche Kinder in die Klasse bekommen, häufig nichts anderes ein, als den Eltern zu sagen: Geht zum Arzt! Und meist sagen sie dann auch noch: Der muss zum Arzt, der hat ADHS, und der braucht Ritalin, sonst schafft er die Klasse nicht. Und dann rennen die Eltern so lange von einem Doktor zum anderen, bis ihnen irgendeiner Ritalin verschreibt.
Katharina Saalfrank: Wenn Eltern ihren Kindern also Ritalin verabreichen, dann sollten sie genau wissen, wie das wirkt, und auch die volle Verantwortung übernehmen. Und heute kann sich auch keiner mehr darauf zurückziehen, auch die Gesellschaft nicht, dass man sagt: »Ach, das hab ich ja gar nicht gewusst!« Die Informationen sind doch eigentlich alle da. Die liegen alle auf dem Tisch.
Gerald Hüther: Ja, das stimmt! Und sie kriegen auch diese ganzen Befunde nicht wieder runter vom Tisch. Sie haben vielleicht im vorherigen Jahrhundert noch viele sehr richtige Erkenntnisse aus der Psychologie und der Pädagogik mit einer Handbewegung vom Tisch wischen können, aber das geht heute nicht mehr. Denn jetzt steht auf einmal die Hirnforschung mit ihren objektiven Befunden und ihrer Reputation als Naturwissenschaft dahinter, und diese Erkenntnisse lassen sich nicht so einfach vom Tisch wischen, denn die müssten sie erst widerlegen.
Und damit ist nun auch Schluss mit der alten Ausrede, wir könnten angeblich nicht anders. Hier beginnt der eigentliche Aufbruch in unserer Gesellschaft. Und da geht es nicht um Bildungssysteme, es geht auch nicht um Erziehungssysteme. Es geht um die Transformation einer ganzen Gesellschaft. Wir sind dabei, im 21. Jahrhundert anzukommen.
Schule als Ort der Begegnung
Das Gras wächst nicht schneller,
wenn man daran zieht.
Afrikanisches Sprichwort
Bei allem, was ich in den vergangenen Jahren in Deutschland im Zusammenhang mit der Institution Schule nach vielen Gesprächen mit Kindern, Eltern und Lehrern einerseits und dem Lernen und Arbeiten andererseits an Erfahrungen gesammelt habe, bin ich davon überzeugt, dass wir das »System Schule« als Ort der Begegnungen für alle Beteiligten neu begreifen und beim Lehren in Schulen grundsätzlich anders, nämlich vom Kind aus, denken müssen. Auch braucht Schule viel stärker als bisher Raum für Sozialisations- und Beziehungserfahrungen.
Zwar sehen wir die Schule heute nicht mehr nur als reinen Lernort, und wir sind uns weitgehend darüber einig, dass sie als erweiterter Lebensraum eine große Bedeutung für das Aufwachsen von Kindern hat. Wie dieser Ort jedoch sinnvoll für grundlegende Sozialisationserfahrungen der Kinder genutzt werden kann, ist aus meiner Sicht noch weitgehend offen. So verändern sich die Schulformen zwar vereinzelt, eine grundsätzliche Veränderung des Systems findet jedoch nicht statt. Offen ist meines Erachtens auch, ob eine solche Veränderung gesamtgesellschaftlich überhaupt erwünscht ist. Denn immer wieder erscheint »die alte Schule« in »neuem Gewand«, und eine Veränderung ist nur an der Oberfläche spürbar.
Warum werden aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, welche Voraussetzungen Kinder zum guten Lernen benötigen, weitgehend ignoriert? Nach diesen Erkenntnissen sollte die alte »angstbesetzte« Schule abgelöst werden und Schule heute Kindern einen optimalen Sozialisationsraum und die Möglichkeit bieten, in einer unterstützenden Lehrer-Schüler-Beziehung angstfrei zu lernen, Erfahrungen zu sammeln und ohne Druck die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln und Potenziale bestmöglich zu
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