Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Tag ein Stück über sich hinauswächst, ist die Grunderfahrung aller Kinder während der gesamten Schwangerschaft. Das heißt, in unserem Gehirn sind schon vorgeburtlich Nervenzellverknüpfungen entstanden, und jedes Kind kommt deshalb mit diesen hirnorganischen Anlagen und dem Wissen auf die Welt, dass es möglich ist, gleichzeitig verbunden und frei zu sein.
Katharina Saalfrank: Man könnte also sagen, jeder Mensch hat durch diese vorgeburtlichen Erfahrungen schon die erste grundlegende Beziehungserfahrung gemacht, die uns Menschen dann zu sozialen Wesen macht und uns mit der Sehnsucht nach genau dieser Beziehung ins Leben gehen lässt. Der Suche einerseits nach dem Gefühl dazuzugehören und dem Bedürfnis andererseits, auch eigenständig zu sein, frei zu sein und autonom zu werden – ohne die Verbundenheit zu verlieren.
Gerald Hüther: Durch diese Erfahrungen sind bestimmte Vernetzungen im Gehirn stabilisiert worden, die die physische Grundlage dieser Erwartungshaltung sind. Weil wir erfahren haben, dass es möglich ist, eine Beziehung zu führen, in der man gleichzeitig verbunden ist und gesehen wird in seiner Einzigartigkeit.
Katharina Saalfrank: Ich frage mal ganz einfach: Sind denn Beziehungserfahrungen im Gehirn sichtbar?
Gerald Hüther: Was wir nachweisen können ist Folgendes: Wenn dieses große Netzwerk, sprich das Gehirn, bereitgestellt und man in einer Welt groß wird, in der man sich als Kind aus eigenem Antrieb auf ganz vieles einlassen kann, dann macht man ganz viele Beziehungserfahrungen und man bekommt ein komplexeres Gehirn mit mehr Vernetzungen. Man bekommt dann auch einen dickeren Kortex – und das kann man messen.
Das heißt, an diesem Umstand ist biologisch nicht zu rütteln: Es ist wichtig, dass Kinder vielfältige Beziehungserfahrungen machen, weil sich diese dann in Form von neuronalen Beziehungsmustern strukturell verankern. Die allererste Beziehungserfahrung ist immer eine Erfahrung mit sich selbst. Das heißt, das Erste, was ein Kind kennenlernen muss, ist es selbst. Und das tun Kinder auch automatisch, das ist auch das, was sie vorgeburtlich schon gemacht haben. Man denkt immer, die Beziehung zur Mutter sei das Entscheidende. Nein! Die allerersten Erregungsmuster, anhand deren sich die ersten Netzwerke im kindlichen Hirn strukturieren, kommen aus dem eigenen Körper. Man könnte es auch ein wenig prosaisch ausdrücken: Das kindliche Hirn lernt allmählich, dass da unten ein Körper dranhängt.
Schule und Lernen
Katharina Saalfrank: Die Schule möchte den Kindern alle Möglichkeiten geben, sich aufs Leben vorzubereiten. Sie sollen gebildet werden durch Fördern und Fordern. Ist das denn aus Sicht der Hirnforschung sinnvoll?
Gerald Hüther: Aus der Perspektive der Hirnforschung haben die Engländer ihren besseren Begriff für das, was wir mit »Erziehung« meinen. Kinder sind doch keine Obstbäume, die nach den Vorstellungen eines Gärtners so zurechtgestutzt werden können, dass sie den höchsten Ertrag bringen. Ich erziehe dich, ich bilde dich … das sind schon sehr sonderbare Sprachbilder. Im Englischen heißt das »Education«, das kommt aus dem Lateinischen und leitet sich von einem Verb ab, das »führen, anleiten« bedeutet. Wer so unterwegs ist, als Begleiter also, hat verstanden, was die Hirnforscher inzwischen auch herausgefunden haben: Man kann Kinder nicht erziehen, man kann sie nicht bilden, man kann nur Bedingungen schaffen, innerhalb deren das Kind diesen Selbstbildungsprozess, diesen Selbsterziehungsprozess als etwas versteht, das ihm selbst wichtig ist und an dem es selbst arbeitet. Kinder bauen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten durch einen eigenen konstruktiven Prozess im Gehirn auf. Dazu kann man sie nicht zwingen. Dazu kann man nur einladen, ermutigen und inspirieren. Das sind dann auch die drei Worte, die zu dem Begriff Potenzialentfaltung gehören. Zur Ressourcennutzung hingegen gehören Unterricht, Erziehung, Vorschreiben, dazu gehören all diese Dressurmethoden, die wir aus dem letzten Jahrhundert mitgebracht haben, um Menschen dazu zu bringen, dass sie sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, dass sie möglichst gut funktionieren.
Diese Einsichten sind bisher bestenfalls bei drei Prozent der Bevölkerung angekommen. Das heißt aber nicht, dass sie falsch wären. Das heißt nur, dass sich die meisten Menschen diese Modelle, diese Vorstellungen und diese Denkmuster aus dem letzten Jahrhundert, mit denen sie ja selbst noch »erzogen« worden sind,
Weitere Kostenlose Bücher