Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
entfalten. Das Ziel von Schule sollte es sein, möglichst selbstständig vielfältige Problemlösestrategien zu finden, zu erproben und erfolgreich anzuwenden. Neben dem rein fachbezogenen Wissen sind auch emotionale und soziale Fähigkeiten wie Selbstständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Empathie und Teamfähigkeit zu grundlegenden Entwicklungszielen geworden. Darüber ist sich die Fachwelt einig.
In der Realität allerdings gehen viele Kinder mit Angst in die Schule, können dort auf keine Beziehung vertrauen, sind verunsichert, stehen unter Druck, sind entmutigt, geben auf. Sie verbinden Schule mit negativen Erfahrungen.
Auch in der Ausbildung der Lehrer findet der Beziehungsaspekt bisher kaum Berücksichtigung. So hat eine Umfrage unter jungen Lehrern ergeben, dass sich fast jeder zweite unzureichend auf seinen Beruf vorbereitet fühlt: »40 Prozent der Junglehrer, die ihre Ausbildung bemängeln, geben an, dass sie sich unzureichend auf den Umgang mit Schülern und Eltern vorbereitet fühlen.«
Wir sollten uns von den Resultaten der Pisa-Studie nicht blenden und auch nicht erschrecken lassen. Pisa bewertet nicht die Fähigkeiten unserer Kinder! Das ist ein Trugschluss! Im Gegenteil: Pisa ist eine Momentaufnahme dessen, was die Qualität in unserem Schulsystem ausmacht, und sagt etwas darüber aus, in welchem Maße Schüler ihre Stärken und Potenziale in einem bestimmten System nutzen können. Aber über die Stärken und Fähigkeiten unserer Kinder selbst, unabhängig von diesem System, sagt Pisa nichts aus. Warum also nutzen wir nicht das Wissen, das wir darüber haben, wie Kinder erfolgreich lernen – anstatt sie permanent einem System anpassen zu wollen, das natürliche menschliche Vielfalt in ein Schema presst und so Kindern in ihrer Verschiedenartigkeit nicht entspricht? Wie sollen denn die Kinder lernen wollen, wenn schon die Lehrer lehren müssen? Druck erzeugt Gegendruck und ist keine gute Basis zum Lernen.
Um es gleich zu sagen: Das liegt nicht in erster Linie an den Lehrern, die häufig auch daran verzweifeln, dass es ihnen im vorgegebenen Rahmen schwerfällt, ihrem Arbeitsauftrag gerecht zu werden. Das Problem liegt im System selbst – einem System, das gutes Lernen im oben beschriebenen Sinne für Kinder (und Lehrer) enorm erschwert, an vielen Stellen sogar verhindert:
Das Schulsystem schaut vor allem defizitorientiert auf unsere Schüler und nimmt sich damit selbst die Möglichkeit, ein Umfeld bereitzustellen, in dem alle Fähigkeiten und Potenziale der Kinder zur Entwicklung kommen können.
Es fehlt die Zeit für eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung. Eine Beziehung, in der Kinder mit ihren Stärken und Ideen, aber auch mit ihren Fragen und Ängsten ernst genommen werden. Eine Beziehung, die von Vertrauen und Wertschätzung gekennzeichnet ist.
Das System Schule ist nach wie vor auf Prinzipien wie Macht und Gehorsam aufgebaut und bietet deshalb auch keinen Raum für wertschätzenden Dialog, Kommunikation und die Beachtung der Individualität des Schülers.
Trotz vereinzelter Reformansätze fehlt letztendlich in der Schule schlicht die Zeit für einen fruchtbaren Dialog mit Kindern. Deshalb wird viel zu wenig darauf geschaut, welche Vielfalt, welche Fertigkeiten und Kompetenzen Kinder zu bieten haben. Zeit und Dialog gelten in der pädagogischen und bildungspolitischen Diskussion als Reizwörter – und ich weiß, in welch angreifbare Rolle ich mich begebe, doch es hilft nichts: Diese Faktoren entscheiden, ob Schule gelingt. Damit Kinder gut lernen können, brauchen sie eine vertrauensvolle Beziehung zum jeweiligen Lehrer. Oder anders: Kinder sind in der Schule immer nur so erfolgreich, wie es ihr Lehrer ist. Nur in einem wertschätzenden Dialog ist es möglich, Kinder zu ermutigen, sich etwas zuzutrauen, sich auszuprobieren und sich neuen Herausforderungen zu stellen.
Stattdessen wird der Fokus in der Regel auf »Defizite« und »Versagen« gelegt, und diejenigen Schüler, die die vorgesehenen Normen und Leistungsansprüche nicht erfüllen können, werden dann an genau diesen Stellen belehrt, »repariert« und sanktioniert: durch Bewertung, durch entsprechende Noten, durch Kritik, durch verstärktes Einüben eben der Normen und Vorgaben, denen der Schüler nicht genügte – und das betrifft Lernziele genauso wie Verhaltensregeln, zum Beispiel das Stillsitzen.
So steht das vorherrschende Schulsystem dem kindlichen Lernen, den natürlichen Bedürfnissen und Entwicklungsmöglichkeiten von
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