Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
persönlich abgewertet fühlen. Die Lehrerin berichtete im Beratungsgespräch eindrücklich davon, wie sehr sie an ihrer Aufforderung festgehalten hat, weil sie die Verweigerungshaltung des Jungen erst geärgert und dann auch zunehmend verunsichert habe:
»Ich habe mich gar nicht ernst genommen gefühlt, eher abgewertet und angegriffen. Das Schlimmste aber waren die Hilflosigkeit und die Ohnmacht. Er hat einfach nicht das gemacht, was ich wollte.«
Wir wissen nicht, was den Jungen ursprünglich dazu bewogen hat, sich der Aufforderung seiner Lehrerin zu verweigern. Vielleicht hatte er das Material vergessen und sich geschämt, vielleicht wollte er zunächst sehen, wie die Lehrerin reagiert, und konnte sich dann der Situation nicht mehr entziehen? Konzentrieren wir uns hier auf die emotionale Ebene, können wir jedoch davon ausgehen, dass sich in dem dann entstandenen Machtkampf bei dem Jungen genau die gleichen Gefühle entwickelt haben wie bei seiner Lehrerin: Er fühlte sich vorgeführt, abgewertet und persönlich angegriffen. Daraus ist Scham und Hilflosigkeit, später dann Ohnmacht geworden, die ihn unter den Tisch getrieben hat.
Überall, wo Menschen zusammen sind, entstehen Konflikte und Auseinandersetzungen. Immer! Das gehört dazu und ist gut und auch notwendig. Konflikte entstehen, wenn gegensätzliche Interessen vorliegen. Um eine Lösung beziehungsweise einen Kompromiss finden zu können, muss ein Austausch stattfinden. Die Frage ist: Welche Form von Austausch ist möglich? Das Problem ist hier also nicht der Konflikt an sich, sondern die Art und Weise, wie mit dem Konflikt umgegangen wird. Für die junge Lehrerin war die Erkenntnis, dass der Junge sich im Grunde genauso fühlt wie sie selbst, dass beide emotional tatsächlich »im selben Boot« sitzen, ein wichtiger Schritt, um zu verstehen, dass es im Wesentlichen nicht um die Verweigerung des Jungen ging, sondern um die Form dessen, wie sie als Lehrerin versucht hat, machtvoll an ihren Interessen festzuhalten und sich damit durchzusetzen. Die Eltern des Jungen hat sie dann nicht zum Gespräch gebeten. Aber bei der nächsten Gelegenheit konnte sie mit ihrem neu gewonnenen Verständnis in einen Dialog mit ihm gehen und die Situation noch mal besprechen.
Von sich selbst sprechen und Ich-Botschaften senden
Ein persönlicher Dialog kann vor allem dann gelingen, wenn die Gesprächspartner wirklich persönlich werden und von sich selbst und ihren Empfindungen sprechen. Dafür ist es wesentlich, dass wir in den Formulierungen achtsam sind und eigene Wahrnehmungen, Bedürfnisse, Wünsche und Empfindungen in sogenannten Ich-Botschaften formulieren. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass Aussagen über das eigene »Ich« gemacht werden, sodass kein verbaler Angriff auf den Gesprächspartner entsteht. Die Gesprächspartner werden so in ihrer Gesamtpersönlichkeit, mit ihren Stärken und Schwächen sichtbar – was insbesondere im schulischen Kontext eine große Herausforderung darstellt. Dem Empfänger wird so keine Verantwortung für den Inhalt des Gesagten zugeschoben.
Eine Ich-Botschaft lässt sich in drei Teile untergliedern:
Sachaussage,
Gefühlsaussage,
Aussage über die eigenen Bedürfnisse und gegebenenfalls damit verbundenen Wünsche.
Die Lehrerin könnte also sagen: »Dass es so schwierig zwischen uns beiden ist (Sachaussage), macht mich traurig, und ich habe mich auch geärgert (Gefühlsaussage), weil ich gerne meinen Unterricht machen möchte und auch will, dass du dabei bist (Aussage über die eigenen Bedürfnisse). Ich würde mich freuen, wenn wir eine gemeinsame Lösung finden und es schaffen könnten, dass wir uns besser verstehen und unseren Ärger besprechen (Aussage über den damit verbundenen Wunsch).«
Dem gegenüber steht die Du-Botschaft: »Du hast hier den Unterricht gesprengt; du störst, und das darf nicht sein. Du musst dich anpassen oder den Unterricht verlassen.« Diese Aussage hat einen vorwurfsvollen Charakter und birgt Konfliktpotenzial und eine Eskalationsgefahr. Ich-Botschaften hingegen wirken deeskalierend und einladend.
Die Verantwortung für das Zustandekommen und Fortbestehen einer vertrauensvollen Lehrer-Schüler-Beziehung tragen die Erwachsenen. In unserem Beispiel konnte die Lehrerin diese Verantwortung übernehmen und verstehen: Ihr Verhalten und ihre Haltung sind ausschlaggebend dafür, ob eine konstruktive Beziehung zum Schüler auch langfristig gelingt. Was nicht automatisch heißt, dass es keine Konflikte mehr
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