Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Eigenverantwortung kosten kein Geld. Wohl aber Kraft, und jeder Einzelne steht hier vor der Entscheidung, ob er sie aufbringen kann und will. Es lohnt sich auch, eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufzumachen. Denn die tatsächlichen gesellschaftlichen Kosten gescheiterter Schullaufbahnen sind enorm. Sie tauchen später nur nicht im Bildungsetat, sondern in anderen staatlichen Haushalten auf.
Eine konstruktive Lehrer-Schüler-Beziehung
Eine gute Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ist Grundvoraussetzung dafür, dass sich alle Beteiligten wohlfühlen und eine konstruktive Atmosphäre entstehen kann, in der Lehrer mit weniger Druck unterrichten und Schüler ohne Angst lernen können. Die Lehrer-Schüler-Beziehung beeinflusst maßgeblich die Lernbereitschaft und das Sozialverhalten von Schülern.
Da traditionelle Autoritätsmodelle heute insgesamt hinterfragt werden, haben wir auch in der Schule die Chance, Neues auszuprobieren. An der Stelle des alten Gehorsamkeitsprinzips könnte sich ein gleichwertiger Dialog etablieren. Hierfür ist ein neues Rollenverständnis nötig.
Basis für eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung ist neben der gegenseitigen Wertschätzung vor allem beiderseitiges persönliches Vertrauen: Vertrauen seitens des Lehrers in die Fähigkeiten und die Entwicklung des Kindes, das die natürliche Lust mitbringt, die Komplexität der Welt erfahren, sie erforschen und begreifen zu wollen. Und das Vertrauen des Schülers, dass er in seiner Persönlichkeit geachtet und sein schulisches Lernen und Arbeiten nicht durch machtvolle Auseinandersetzungen und persönliche Kränkungen beeinträchtigt wird. Wenn ein Lehrer einen ohnehin (leistungs-)schwachen Schüler zum Vorrechnen einer Mathematikaufgabe an die Tafel ruft (vordergründig aus didaktischen Gründen immer begründbar) und (in Wirklichkeit) damit aber in Kauf nimmt, die Unkenntnis des Schülers vor der Klasse zu demonstrieren, wird kein Vertrauen entstehen können. Ebenso wenig wird ein Schüler, der im Deutschunterricht seinen schlecht bewerteten Aufsatz vor der Klasse vorgelesen bekommt, laut und mit Betonung der Fehler, Vertrauen in seine Lehrerin fassen können. Hier geht es nicht darum, Lehrern zu unterstellen, sie würden absichtlich und bewusst ihre Schüler gängeln (auch das gibt es). Wichtig ist vor allem, die alltäglichen Mechanismen zu sehen und zu verstehen, wie sie sich auf die Qualität der Beziehung auswirken.
Im Rahmen der pädagogischen Beratung einer Grundschule traf ich auf eine junge Lehrerin, die sehr aufgeregt über eine Situation war, die sie erst am Tag zuvor mit einem siebenjährigen Jungen erlebt hatte. Am Anfang des Unterrichts fordere sie die Klasse immer dazu auf, alle Lernmaterialien auf den Tisch zu legen. Normalerweise müsse sie das nur einmal sagen, am Vortag sei es jedoch so gewesen, dass ein Junge ihrer Aufforderung nicht nachgekommen sei.
Sie berichtet weiter: »Ich war ungeduldig, weil ich es ja schon einmal gesagt hatte, und sprach ihn direkt an: ›Keine Extrawürste! Alle legen ihre Sachen auf den Tisch, auch du!‹ Der Junge schaute mich nicht mal an, auch das ärgerte mich. Dann antwortete er: ›Warum denn?‹ Ich wurde noch ärgerlicher und entgegnete ihm, dass wir mit dem Unterricht anfangen wollen und er mit seinem Verhalten alles blockiere. Was antwortete er mir? ›Nö, ich leg nix raus!‹ Ich fragte ungeduldig: ›Warum nicht?‹ Er daraufhin: Er finde, dass wir auch anfangen können, ohne dass seine Sachen auf dem Tisch liegen. Diese Verweigerungshaltung wollte ich nicht akzeptieren und sagte ihm: ›Immer musst du aus der Reihe tanzen, ich kann dir auch einen Eintrag ins Klassenbuch geben!‹ Ich hab wirklich alles probiert, und ja, natürlich war ich auch laut und aufgebracht. Aber es nutzte alles nichts und wurde nur schlimmer. Das Ergebnis war dann, dass der Junge irgendwann weinte und unter den Tisch kroch. Er kam die gesamte Stunde nicht mehr hervor. Und jetzt? Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Eltern zum Gespräch zu bitten; vielleicht ist er ja zu Hause auch auffällig?«
Was ist hier passiert? Schüler und Lehrer sind über einen Konflikt in einen Machtkampf geraten. Als dieser zu eskalieren drohte, hat der Junge ein deutliches Signal gesendet und ist auf seine Weise dem »Kampf« ausgewichen, indem er unter den Tisch gekrochen ist. Ein solcher Machtkampf entsteht vor allem, wenn beide Seiten (!) Angst vor Beschämung haben, unsicher werden und sich nicht anerkannt, sondern
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