Du denkst, du weißt, wer ich bin
Liebling. Dein Dad ist doch nicht deinetwegen gegangen.«
»Hör auf zu lügen«, schrie ich sie wütend an. »Er ist gegangen, weil es zu schwierig war, mit mir auszukommen. Ich war schrecklich . Er hat sich für mich geschämt und war mich leid – mich und all meine Probleme .«
Toby begann zu wimmern: Hört auf, hört auf . Ich erwartete, dass Mum zu ihm gehen würde, aber sie blieb, wo sie war. »Das stimmt nicht. Das darfst du niemals denken. Es gab so viele Probleme –«
»Ach ja? Was für welche denn?«
Mum fing auch an zu weinen. »Oh Gott, wo soll ich anfangen? Seine Unfähigkeit, mit dem Altern umzugehen. Das Auto. Der Job. Der Alltag. Er selbst. Ich .« Mum schüttelte den Kopf, ihr Weinen klang jetzt wütend. »Scheiß-Midlife-Crisis. Voll das Klischee.«
Nichts davon ergab für mich einen Sinn. Wenn mein Kopf nur aufhören würde, sich zu drehen, könnte ich meine Gedanken sortieren. »Wenn ich nicht der Grund war, dass er gegangen ist«, hörte ich mich schreien, »warum hat er mich dann nie im Krankenhaus besucht?«
Mum holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Nase. Sie schien mich mit Absicht nicht anzusehen. »Ich hätte dir das längst erzählen sollen, Livvy«, begann sie. »Vor langer Zeit. Er hat versucht, dich zu sehen. Mehrere Male.«
Einen Moment lang fühlte ich mich so leicht, so leicht, als könnte ich vom Boden abheben. Er hat mich doch noch gern. Aber die Leichtigkeit verschwand, als mir etwas aufging. Ich sah Mum ins Gesicht. » Du hast ihn davon abgehalten.«
Die Gartenhandschuhe waren Mum von den Händen gerutscht und lagen zu ihren Füßen. Toby hatte sich die Finger in die Ohren gesteckt und machte laute unmelodische Geräusche, um unsere Stimmen auszublenden.
»Dir ging es so schlecht«, sagte Mum. »Du brauchtest Stabilität.«
»Lass es bloß nicht so klingen, als ob du ihn von mir ferngehalten hast, um mich zu schützen«, fauchte ich. »Du wolltest ihn bestrafen! Dafür, dass er gegangen war. Du willst alles unter Kontrolle haben – was ich sage, was ich esse, wen ich treffe. Hier zu leben ist wie …« Ich tastete nach einer Möglichkeit, mich auszudrücken, dann erinnerte ich mich an den perfekten Ausdruck. »Es ist, als ob du versuchst, zu atmen, wenn dir jemand ein Kissen ins Gesicht drückt.«
»Nein. Nein .« Mums Gesicht sah verletzt aus und hässlich.
»Es ist deine Schuld, dass er gegangen ist«, sagte ich. Die Worte sprudelten nur so aus mir, unhaltbar, von meiner Wut hinausgeschleudert.
Toby saß zusammengekauert auf dem Boden, rund wie ein winziger Ball. Endlich schien Mum aus ihrer Benommenheit zu erwachen, kauerte sich neben ihn und streichelte ihm über den Rücken. Als sie zu mir hochsah, war ihr Gesicht tränenüberströmt. »Bitte, Livvy. Lass uns alle zur Ruhe kommen. Und über alles sprechen.«
Ich weiß, ich hätte da etwas empfinden sollen. Da waren meine Mum und mein Bruder – beide so außer sich nur meinetwegen. Aber etwas Hartes hatte den Eingang zu meinem Herzen verschlossen. Mum streckte mir eine Hand entgegen, aber ich nahm sie nicht. Ihr Mund öffnete und schloss sich wieder und wieder, und ich wusste, da kamen Worte, aber sie lösten sich auf, bevor sie meine Ohren erreichten.
Als ich mich in Bewegung setzte – mich von Mum und Toby wegdrehte und nach draußen lief – konnte ich den Boden unter den Füßen nicht spüren. Ich lief wie auf Watte. Das Einzige, was ich fühlte, war die Erschütterung der Tür, die hinter mir ins Schloss fiel.
Ich begann zu rennen.
Zuerst jagte ich einfach blind und schnell los. Ich hoffte, der Wind, der über mich hinweg blies, würde alles aus dem Weg schaffen. Als ich nicht mehr laufen konnte, ging ich – langsamer und langsamer, bis ich zu erschöpft war, auch nur noch einen einzigen Schritt zu machen, und auf den Bordstein sank. Ein schreckliches Geräusch drang aus meinem Mund – etwas zwischen Weinen und Keuchen.
Ich hatte nichts dabei – kein Geld, kein Handy. Was zum Teufel mache ich jetzt bloß?
Zu Miranda konnte ich nicht gehen. Nicht in solch einem erbärmlichen Zustand.
Ich sah mich um, um festzustellen, wo ich gelandet war. Auf der Promenade, nicht weit vom Mercury entfernt.
Geld , dachte ich. Geld war etwas Reales. Wenn ich etwas hätte, würde ich mich nicht so fühlen, als raste ich ohne Ziel durchs Weltall. Ich stand auf. So etwas wie ein klares Ziel öffnete sich durch den Dschungel in meinem Kopf. Ich würde hingehen und Noah um einen Vorschuss bitten.
Vor dem
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