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Du findest mich am Ende der Welt

Du findest mich am Ende der Welt

Titel: Du findest mich am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Barreau
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nicht. Es ist Viertel nach zwei, und noch eine weitere Stunde
Telefonterror halte ich nicht aus.« Meine Beule tat höllisch weh, ich wollte
meinen armen Kopf endlich auf ein weiches Kissen betten, mich in die dunkle
Ruhe meines Schlafzimmers fallen lassen.
    Und ich fragte mich, ob ich ein schlechter Mensch war, wenn ich
dieses an der Welt und sich selbst zweifelnde Geschöpf noch eine Nacht lang
seinem Unglück überließ.
    Â»Ich bin ein Schwein«, murmelte ich düster. »Aber wenn ich jetzt
nicht sofort ins Bett kann, falle ich auf der Stelle tot um.«
    Dann griff ich seufzend nach dem Telefonhörer und wählte die
Nummer von Soleil Chabon.
    Eine halbe Stunde später saß ich im Taxi, Richtung Trocadéro.
    Wie
oft schon hatte ich Berichte darüber gelesen, daß der Mensch unter bestimmten
Umständen plötzlich ungeahnte Kräfte mobilisiert. Er marschiert völlig
erschöpft immer weiter durch die Sahara, in der Hoffnung, doch noch auf die
lebensrettende Oase zu stoßen. Er braucht drei Nächte lang keinen Schlaf und
hält sich mit Kannen voll Kaffee an seinem Computer wach, damit die
Examensarbeit noch den Poststempel für das Datum des allerletzten Abgabetermins
bekommt. Er klammert sich eine halbe Stunde länger als eigentlich möglich an
einem Seil fest, wenn unter ihm ein Tümpel mit hungrigen Krokodilen wartet. Der
Mensch ist erstaunlich in seinen Möglichkeiten, und ich erlebte gerade am
eigenen Leib, was außerordentliche Adrenalinausschüttungen bewirken können.
    Von nervöser Unruhe erfaßt, blickte ich nach links zum Eiffelturm
hinüber, als wir jetzt den menschenleeren Quai d’Orsay entlangrasten. Ich war
dankbar, daß ich mich in Paris auskannte und wenigstens den Weg zur Rue Augereau,
einer kleinen Straße in der Nähe des Champs de Mars, hatte erklären können.
    Â»Du sagen, ich fahren!« Die lapidare Aufforderung des Fahrers,
dessen Heimat irgendwo im tiefsten Sudan liegen mußte, hätte jeden weniger
ortskundigen Fahrgast sicherlich überfordert.
    Â»Könnten Sie ein bißchen schneller fahren?« fragte ich den schwarzen
Mann, der seine Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen hatte. » Je suis pressé , ich habe es wirklich eilig.«
    Der Mann vom afrikanischen Kontinent war solche Hast offenbar nicht
gewohnt. Er brummte irgendeine Unverschämtheit in seiner Landessprache, trat
dann aber aufs Gaspedal.
    Â»Es ist ein Notfall«, versuchte ich ihn zu motivieren.
    Ich wußte nicht, ob es ein Notfall war. Ich wußte nur, daß sich
Soleil eine Stunde, nachdem sie ihre düstere Botschaft auf meinem
Anrufbeantworter hinterlassen hatte, nicht mehr meldete. Fünfmal hintereinander
hatte ich ohne Erfolg bei ihr durchklingeln lassen, dann hielt ich es nicht
mehr aus.
    Mag sein, daß sie einfach nur schlafen gegangen war und das Telefon
abgestellt hatte, aber ich wollte nicht schuld sein an ihrem Tod. Das Gewissen
plagte mich. Und die Nacht hat ihre ganz eigene Dramatik.
    Mit einem Ruck blieb der Taxifahrer vor der angegebenen Hausnummer
stehen. Ich hatte Soleil schon öfter in ihrem Atelier besucht, in dem sie auch
schlief und lebte.
    Ohne zu überlegen, drückte ich die Zahlenkombination, die das
Hauptportal aufspringen ließ. Dann eilte ich durch den Hof, der mit zarten
Bäumen bewachsen war, und blieb atemlos vor ihrer Wohnungstür stehen. Ich
schellte Sturm, und als nichts passierte, hämmerte ich mit der Faust gegen die
Tür.
    Â»Soleil? Soleil, mach auf! Ich weiß, daß du da bist!«
    Plötzlich hatte ich ein déjà vu . Vor zwei
Jahren hatte ich auch schon vor dieser Tür gestanden und gehämmert. Damals
hatte Soleil sich eine ganze Woche totgestellt. Sie verweigerte sich. Ich
quatschte ihr den Anrufbeantworter voll, bat dringend um Rückruf, aber sie
meldete sich nicht. Sie ging nicht ans Telefon und ließ mich draußen vor der
Tür stehen, als wäre keiner da. Und alles nur, weil sie Angst hatte, mir zu
sagen, daß ihre Bilder noch nicht fertig waren.
    In meiner Not und weil die Zeit allmählich wirklich knapp wurde,
hatte ich damals ein Blatt Papier mit riesigen Lettern unter der Tür
durchgeschoben:
    SPRICH MIT MIR.
    FÜNF MINUTEN!
    DANN WIRD ALLES GUT!
    Darunter hatte ich ein kleines, flehendes Jean-Luc-Strichmännchen
gezeichnet. Wenige Sekunden später hatte sich die Tür zögernd geöffnet.
    Was soll ich sagen

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