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Du findest mich am Ende der Welt

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Titel: Du findest mich am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Barreau
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das Waschbecken aufgestützt und starrte auf die
Stelle, wo Charlotte ihren kleinen Zettel mit dem Lippenstiftkuß hingesteckt
hatte, bevor ich ihn so gedankenlos in den Abfallkorb warf und er, dank meiner
gewissenhaften Putzfrau, den Weg in die Mülltonnen im Hof genommen hatte.
    Ich versuchte den netten bleichen Mann im Spiegel, der
augenscheinlich nicht genug für seinen »Teint« tat, davon zu überzeugen, daß
das graphologische Gutachten sowieso unbefriedigend ausfallen würde. Er glaubte
mir plötzlich nicht mehr.
    Leider ist es immer dasselbe: Sobald man etwas verloren hat, von dem
man glaubte, es sei einem sicher, wird es zum Objekt übersteigerter Begierde.
Sobald ein anderer sich auf die Tasche, die Schuhe, das Bild, die Lampe mit dem
venezianischen Schirm stürzt, bei denen man selbst noch überlegte und zögerte,
weiß man, daß genau dies das Richtige gewesen wäre.
    Mit einem Mal war ich mir sicher, daß die Handschrift auf dem
verschwundenen Zettel mit der des Briefes übereinstimmen würde. Und hatte
Charlotte nicht geschrieben, sie hätte noch etwas bei mir gut?
    Meine Müdigkeit war plötzlich verflogen. Ich mußte Gewißheit
haben!
    Wer jemals in einer Mülltonne nach etwas gesucht hat, weiß,
wovon ich spreche, wenn ich behaupte, daß die mühevollen Ausgrabungsarbeiten
der Schätze des Tutenchamun dagegen ein romantisches Abenteuer gewesen sind.
Mit spitzen Fingern zog ich leere Tomatenmarkdosen, Weinflaschen, gebrauchte
Hygieneartikel, zerknüllte Chipstüten, Patégläser und die sterblichen Überreste
eines Coq au vin hervor, und obwohl es aufgehört hatte zu regnen und der Mond
alles in ein sanftes gelbliches Licht tauchte, hatte meine Aktion so gar nichts
von Schliemannscher Entdeckerfreude.
    Und
doch – mein Einsatz wurde belohnt. Nach zwanzig qualvollen Minuten im Müll
hielt ich einen kleinen zerknüllten Zettel in der Hand, der, abgesehen von
einer Kartoffelschale, die an ihm klebte, seinen Ausflug in die Niederungen von
Paris erstaunlich unbeschadet überstanden hatte. Glücklich seufzend steckte ich
meinen Schatz in die Tasche, als aus dem Nichts ein harter Gegenstand auf
meinen Schädel krachte.
    Ich fiel zu Boden wie ein Stein. Als ich die Augen wieder aufschlug,
hörte ich eine jammernde Stimme über mir. Sie gehörte zu einem Gespenst in
weißem Gewand, das sich über mich beugte und unaufhörlich »Oh, mein Gott, oh,
mein Gott, Monsieur Champollion, es tut mir so leid, es tut mir ja so leid«
rief.
    Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, daß es Madame Vernier
war, die da im Nachthemd neben mir kauerte.
    Â»Monsieur Champollion? Jean-Luc? Sind Sie verletzt?« rief sie wieder
leise, und ich nickte benommen. Meine Hand fuhr über die schmerzende Stelle am
Kopf und ertastete eine Beule.
    Ich starrte meine Nachbarin in ihrem duftigen Spitzennachthemd und
dem gelösten Haar an wie eine Erscheinung. »Madame Vernier«, murmelte ich
fassungslos, »was ist passiert?«
    Madame Vernier nahm meine Hand. »Oh, Jean-Luc«, schluchzte sie, und mir
fiel auf, daß sie mich bereits zum zweitenmal beim Vornamen nannte. Es hätte
mich in meinem Zustand nicht groß verwundert, wenn sie mir in diesem Moment
gestanden hätte, daß sie die heimliche Briefeschreiberin war (Ich liebe Sie schon lange, Jean-Luc … Ich habe immer gehofft, daß
Cézanne uns eines Tages zusammenführt …) .
    Â»Verzeihen Sie mir, bitte!« Die Nachbarin im Nachthemd schien völlig
außer sich. »Ich habe Geräusche im Hof gehört, direkt unter meinem Fenster, da
bin ich rausgeschlichen, und dann sah ich einen Mann, der auf den Mülltonnen
rumkletterte. Ich habe Sie für einen Einbrecher gehalten. Tut es noch weh?«
Neben ihr lag eine winzige Gummihantel.
    Ich stöhnte. »Galerist wühlt in Mülltonnen – tot!« schoß es mir
durch den Kopf. Wenn man es genau besah, hatte ich großes Glück, daß ich
überhaupt noch etwas denken konnte und nicht schon im Nirwana schwebte.
    Â»Ist ja gut, alles halb so schlimm«, beruhigte ich Madame Vernier,
die immer noch meine Hand umklammert hielt.
    Â» Quel cauchemar , was für eine Alptraum«,
flüsterte sie. »Sie haben mich wirklich zu
Tode erschreckt.« Dann verwandelte sich ihr besorgter Blick und wurde
plötzlich streng. »Was machen Sie aber auch um diese Zeit in den

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