Du gehörst zu mir
im Traum. Wann immer er hochschreckte, drückte ihn Madeline sanft zurück in die Kissen und bewachte seine Nachtruhe. Am nächsten Morgen verließ sie auf Zehenspitzen ihr Zimmer und sorgte dafür, niemand seinen Schlaf störte. Sie badete und hüllte sich dann in einen dunkelblauen, mit weißer Spitze abgesetzten Morgenmantel. Nachdem sie allein gefrühstückt hatte, verbrachte sie etwa ein bis zwei Stunden am Schreibtisch und erledigte ihre Korrespondenz.
»Verzeihung, Mrs. Scott …« Die Stimme des Butlers unterbrach ihre Gedankengänge. Er reichte ihr eine Visitenkarte auf einem kleinen Silbertablett. »Der Graf von Rochester hat seine persönliche Aufwartung gemacht.
Als ich ihn in Kenntnis setzte, dass Mr. Scott ›nicht zu Hause‹ ist, fragte der Graf, ob Sie ihn trotz der unangemessenen Uhrzeit empfangen würden.«
Voller Bestürzung starrte Madeline auf die Visitenkarte. Eine ungeahnte Neugier mischte sich mit Besorgnis. Was mochte ihr der Graf mitteilen wollen? Insgeheim dankte sie dem Allmächtigen, Logan immer noch tief und fest schlief. Sie hatte keinerlei Vorstellung, wie er bei Rochesters Auftauchen reagieren würde. »Ich … ich werde kurz mit ihm reden«, sagte sie und stellte ihre Feder mit übermäßiger Sorgfalt zurück in deren silbernen Halter. »Ich komme in die Halle.«
»Sehr wohl, Mrs. Scott.«
Während sie zur Halle schritt, klopfte ihr Herz zum Zerspringen. Die ganze Nacht lang hatte sie darüber nachgedacht, was für ein Mann Rochester war, der seine eigenen Söhne manipuliert und über Jahre hinweg angelogen hatte … der Logan verleugnete und zuließ, er von einem brutalen Pächter misshandelt wurde. Ohne ihn überhaupt zu kennen, verachtete sie den Grafen … und doch empfand sie unterschwellig Mitgefühl für ihn.
Schließlich hatte es sich bei Andrew um seinen legitimen Sohn gehandelt, und sein Tod musste Rochester mit qualvollem Schmerz erfüllen.
Sie verlangsamte ihre Schritte, als sie den graumelierten älteren Mann in der Halle bemerkte, die hünenhafte Gestalt leicht eingesunken, das verhärmte Gesicht ohne jede Spur von Wärme oder Freundlichkeit. Obwohl Madeline keine besondere Ähnlichkeit zwischen ihm und Logan feststellte, konnte sie ihn sich sehr gut als dessen Vater vorstellen. Genau wie Logan schien der Graf unantastbar, unerbittlich und voller Energie. Seine Trauer war unverkennbar: Seine Haut war aschfahl und seine Augen wirkten leer.
»Graf Rochester«, grüßte Madeline mit einem angedeuteten Kopfnicken, ohne ihm jedoch die Hand zu reichen.
Der Graf schien leicht belustigt über diese fehlende Ehrerbietung. »Mrs. Scott«, meinte er mit rauer Stimme, »es ist überaus liebenswürdig, Sie mich empfangen.«
»Der Verlust Ihres Sohnes hat mich tief getroffen«, murmelte sie.
Schweigend musterten sie sich gegenseitig. »Sie sind informiert«, bemerkte er. »Ich kann es Ihrem Gesicht ansehen.«
Madeline nickte. »Ja, Logan hat es mir erzählt.«
Eine seiner dichten Brauen schoss fragend nach oben. »Vermutlich hat er mich als herzloses Ungeheuer dargestellt.«
»Mylord, er hat mir lediglich die Fakten geschildert.«
»Sie liegen etwas über dem Niveau, das ich Logans Ehefrau zugetraut hätte«, bemerkte Rochester. »Eine junge Frau von offensichtlich tadelloser Herkunft. Wie konnten Sie Ihre Familie davon überzeugen, einer solchen Eheschließung zuzustimmen?«
»Sie waren recht angetan von der Vorstellung, einen so renommierten Herrn in ihre Familie aufnehmen zu dürfen«, log Madeline eiskalt.
Rochesters durchdringender Blick ruhte auf ihr, und er schien ihre Lüge zu durchschauen, trotzdem grinste er sie mit verhaltener Bewunderung an. »Mein Sohn hat mit der Wahl seiner Ehefrau einen guten Griff getan.«
»Ihr Sohn?« wiederholte Madeline. »Ich hatte den Eindruck, Sie es ablehnten, ihn rechtmäßig anzuerkennen.«
»Diese Angelegenheit möchte ich mit ihm selbstsprechen.«
Bevor Madeline weitere Fragen an ihn richten konnte, vernahmen sie herannahende Schritte, und drehten sich fast gleichzeitig um. Mit ausdruckslosem Gesicht stellte sich Logan neben Madeline und musterte den älteren Mann mit frostigem Blick.
Die ausgedehnte Nachtruhe schien Wunder gewirkt zu haben. Sein Haar war immer noch feucht vom Waschen, sein Gesicht frisch rasiert, und er trug ein blütenweißes Hemd, eine dunkle Hose und dazu eine graugrün gemusterte Weste. Trotz seiner gepflegten Erscheinung zeichneten sich Ringe unter seinen Augen ab, und er war blasser
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