Du gehörst zu mir
Spielpläne der Herzogin für Mr. Scott und die anderen Ensemblemitglieder.
Das Theaterensemble war wie eine große Familie, mit allen internen Querelen, die man sich in einer so komplexen Gruppe vorstellen konnte. Besonders verwirrend war die schillernde Vielfalt der unter Vertrag stehenden Darsteller.
Madeline hatte den Eindruck, dass Schauspieler wesentlich interessanter und extravaganter waren als andere Menschen. Sie plauderten und scherzten mit einer Offenheit, die sie schockierte. Doch gleichgültig, über welches Thema sie redeten, Mr. Scott spielte stets eine Rolle. Natürlich bewunderten sie ihn, verehrten ihn vielfach sogar und erklärten ihn zum Maß aller Dinge.
Während Madeline den Boden des Pausenraums wischte und schmutziges Geschirr abräumte, hörte sie, wie einige der prominentesten Darsteller des Capitals sich darüber unterhielten, warum sich Menschen ineinander verliebten.
»Es geht nicht darum, was du nach außen hin zeigst«, meinte Arlyss Barry, eine zierliche Vertreterin der leichten Muse mit gelocktem Haar. »Sondern was du nicht zeigst. Mr. Scott beispielsweise. Egal, welche Rolle er spielt er verbirgt immer etwas. Es ist die geheimnisvolle Aura einer Person, zu der du dich hingezogen fühlst.«
»Sprechen wir über die Bühne oder über das wirkliche Leben?« fragte Stephen Maitland, der blonde Darsteller, der Mr. Scott während der Fechtszene versehentlich verletzt hatte.
»Besteht da ein Unterschied?« wollte Charles Haversley, ein junger Schauspieler, in gespielter Verwirrung wissen, woraufhin alle lachten.
»In diesem Fall nicht«, erwiderte Arlyss Barry »Die Menschen wollen immer das, was sie nicht haben können. Das Publikum verliebt sich in den Hauptdarsteller, weil er niemals einer von ihnen sein wird. Im wirklichen Leben ist es genauso. Es gibt keinen Mann und keine Frau, die sich nicht schon einmal in jemanden verliebten, der für sie unerreichbar ist.«
Mit Staubwedel und Kehrschaufel bewaffnet blieb Madeline bei ihnen stehen. »Ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen kann«, meinte sie nachdenklich. »In solchen Dingen bin ich nicht sonderlich erfahren, aber … wenn jemand sehr nett zu einem anderen wäre und ihm, das Gefühl der Anerkennung und Geborgenheit gäbe … würde man das nicht auch anziehend finden?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Charles mit einem verschlagenen Grinsen. »Vielleicht solltest du deine Theorie an mir ausprobieren, Maddy, dann werden wir sehen, ob sie Stimmt.«
»Ich glaube, dass Maddy bereits ein anderes Versuchsobjekt gefunden hat«, wandte Arlyss spitzfindig ein und lachte, als Madeline errötete. »Verzeih mir, Schätzchen … wir machen doch nur Spaß. Daran wirst du dich leider gewöhnen müssen.«
Madeline erwiderte ihr Lächeln. »Gewiss, Miß Barry.«
»Wer ist denn dein Versuchsobjekt?« fragte Charles überaus interessiert. »Doch nicht etwa Mr. Scott?« Als er sah, dass Maddy tief errötete, fragte er in gespielter Verärgerung: »Warum er und nicht ich? Sicher, er ist reich, attraktiv und berühmt … aber was hat er denn noch zu bieten?«
Um seinen Sticheleien zu entgehen, schwenkte Madeline energisch den Staubwedel, bis sie die Tür zum Flur erreichte.
»Das arme Ding«, hörte sie Stephen mit gedämpfter Stimme sagen. »Er wird niemals Notiz von ihr nehmen … sie ist ohnehin viel zu nett für ihn …«
Verwirrt senkte Madeline ihren Staubwedel und lehnte sich in den Türrahmen eines menschenleeren Probenraums.
Nachdem sie das Gespräch der Schauspieler mit angehört hatte – und diese waren wesentlich lebenserfahrener als sie –, begriff Madeline plötzlich, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie hatte sich völlig falsch verhalten, als sie an Mr. Scott herangetreten war, ihm mutig ihr Vorhaben geschildert und sich ihm angeboten hatte, ohne die Spur eines rätselhaften Charismas zu wahren, das ihn vielleicht betört hätte. Kein Wunder, dass er so wenig Interesse an ihr zeigte. Aber jetzt war es zu spät um daran noch irgendetwas zu ändern.
Inbrünstig seufzend wünschte sich Madeline, dass es eine kluge und erfahrene Frau gäbe, die ihr die dringend erforderlichen Ratschläge erteilen könnte. Die Herzogin – aber diese würde Madelines Pläne niemals gutheißen.
Blitzartig kam ihr eine Idee, und sie entspannte sich. Vielleicht gab es doch jemanden, den sie um Rat bitten konnte.
Als die Droschke Madeline vor dem Haus auf der Somerset Street absetzte, war der Himmel dunkel bewölkt.
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