Du gehörst zu mir
einem Kuss? Das ist eine verwegene und elegante Taktik, die sicherlich sein Interesse wecken wird.«
»Aber wie? Und wann?«
»Das überlasse ich Ihrem Erfindungsreichtum, Maddy. Sie werden den richtigen Moment abpassen.«
Überraschen Sie ihn mit einem Kuss. Mrs. Florences durchtriebener Vorschlag beschäftigte Madeline während des gesamten folgenden Tages. Nie würde sich der richtige Moment ergeben, um etwas Derartiges zu tun. Wenn sie doch nur mit der überwältigenden Schönheit ihrer älteren Schwester Justine oder mit Altheas Intelligenz gesegnet wäre! Aber sie war so entsetzlich durchschnittlich, und Mr. Scott war … unerreichbar.
Sie bemerkte seine Ausstrahlung auf andere, die Scharen von Adligen, die nach jeder Vorstellung vor seiner Garderobe warteten, die Schauspieler und Schauspielerinnen, die seinen Rat einholten. Alle wollten etwas von ihm.
Sogar ich, dachte Madeline unangenehm berührt Sie wollte den persönlichsten Gefallen von allen, und mit etwas Glück würde er nie erfahren, warum.
In dem Bestreben, mehr von ihm zu erfahren, gesellte sich Madeline zu Arlyss Barry, die ihren Tee allein im Pausenraum einnahm. Arlyss war eine unerschöpfliche Informationsquelle. Über jedes Ensemblemitglied wusste sie intime Details, die sie nur zu gern preisgab.
»Du möchtest also mehr über Mr. Scott erfahren?« fragte Arlyss, während sie sich ein Stück Konfekt in den Mund schob. Obwohl sich Mrs. Lyttleton über Arlyss’ überaus üppige Figur beklagte, schien diese ihren Heißhunger auf Süßes nicht stillen zu können. »Das würden wir alle nur zu gern, Maddy. Mr. Scott ist der faszinierendste Mann, dem ich jemals begegnet bin, und der Schwierigste, wenn es darum geht, ihn näher kennenzulernen. Was sein Privatleben anbelangt, so ist er ein wahrer Fanatiker. Er lädt niemanden in sein Haus ein. Meines Wissens hat ihn außer der Herzogin noch kein einziges Ensemblemitglied dort besucht.«
Madeline runzelte die Stirn. »Waren Mr. Scott und die Herzogin …«
Arlyss schüttelte die braunen Locken. »Vermutlich waren sich die beiden zu ähnlich und liebten das Theater so sehr, dass es keinen Platz für den anderen zu geben schien. Dann lernte Julia den Herzog kennen, und … aber das ist eine andere Geschichte. Um deine Frage zu beantworten: Julia und Mr. Scott hatten nie eine Liebesbeziehung.
Sie erzählte mir, dass Mr. Scott die Liebe als das schlimmste Übel ansähe, das ihm jemals widerfahren könnte.«
»Aber warum?«
Arlyss zuckte kokett die Schultern. »Das ist sein Geheimnis. Der Mann ist ein einziges Rätsel.« Sie senkte ihre Stimme und beugte sich über ihre Teetasse. »Ich vertraue dir etwas an, was nur wenige Menschen wissen: Mr. Scott war der Sohn eines Gutspächters. Er hat nie eine Schule besucht. Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein, ich …« Madeline war ehrlich verblüfft. »Er wirkt so gebildet so kultiviert.«
»So scheint es«, Stimmte ihr Arlyss zu. »Aber im Hinblick auf sein Elternhaus würde deine und meine Abstammung geradezu fürstlich anmuten. In der Tat deutete Julia mir gegenüber einmal an, dass Mr. Scott schrecklich misshandelt wurde – sein Vater schlug ihn und ließ ihn halb verhungern. Das ist auch der Grund, warum seine Familie weder ihn noch das Theater besucht. Er bezahlt sie, damit sie sich von ihm fernhalten.«
Madeline ließ die Information auf sich wirken, während Arlyss der Konfektschachtel zu Leibe rückte. Sie versuchte sich Mr. Scott als missbrauchten, in Armut lebenden Jungen vorzustellen, doch es war unmöglich, dieses Bild mit dem energischen, selbstsicheren Besitzer des Capital-Theaters zu vereinbaren. In den Augen der Öffentlichkeit – und auch in ihren – hatte er so erhabene Züge angenommen, dass sie kaum glauben konnte, dass er einer so erniedrigenden wie der von Arlyss beschriebenen Vergangenheit entronnen war.
Also daher stammte Mr. Scotts Begabung, dachte sie mit einem Anflug von Mitgefühl. Niemand konnte seinem früheren Leben entfliehen und ohne außergewöhnlichen Erfindungsreichtum – und Entschlossenheit – ein neues beginnen.
»Entschuldigen Sie, Miß Barry«, murmelte sie. »Ich habe zu tun.«
Arlyss nickte ihr zu und wandte sich ihrem Skript zu, dessen Text sie sich mit stummen Lippenbewegungen einprägte.
Madeline schlenderte durch den Gang in Richtung von Mr. Scotts Büro und betrat dann klopfenden Herzens die Schwelle. Die Tür stand offen und gab den Blick auf seinen Rücken frei, da er
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