Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
alle, doch jetzt haben sie sich daran gewöhnt . Vater Theodor wiegelt ab: Sie ist auch wohl, ihren häßlichen Mund eingerechnet, ein ganz ungewöhnlich anmutiges Kind, schreibt er an seine Mutter Lucie. Mit knapp zwei Jahren spricht sie, trotz ihres bedeutenden Mundes, noch nicht besonders, heißt es an Vater Johann Casimir in vielsagender Umschreibung des Problems. Die Worte Hund, Sauhund und Schweinhund sind allerdings schon im Wörter-Gemischtwarenladen der kleinen »Lute«, Wörter, die sich alle reimen auf »Mund«. Auf den Mund gefallen ist Lucie aber nicht. Frühes Selbstbewusstsein und Witz kommen heraus in einer Bemerkung der Dreijährigen – ein glückliches Erbe ihrer Mutter Constanze mag hier wirken – und Vater Theodor hört zu: »Nicht wahr«, sagte sie neulich, »wenn ich tot bin, dann kriegst Du dir doch eine kleine Stieflucie!«
Nach der Taufe kann Constanze ihrer Mutter schreiben: Du denkst nicht, liebe Mutter, wie wohl mir ist, endlich nach langer Kränklichkeit, wieder so recht frisch und gesund zu sein; mir wird jetzt alles so leicht, jede häusliche Arbeit erfreut mich wieder, und ich sehe alles wieder mit leichtem und heiterem Sinn an. Und während sie schreibt und über Verbannung und Heimat berichtet, übermannt sie das Heimweh: Weh, ach wie weh, daß wir armen Verbannten draußen sitzen […] Meine Sehnsucht nach der Heimat nimmt mit jedem Jahr zu. Zurück nach Schleswig-Holstein, der Perle aller deutschen Länder , das wünschen sich nicht nur die Storms in Heiligenstadt.
Aber schön ist es auch hier, Herbsttage wie aus dem Bilderbuch sind zu genießen, goldene Tage, keine grauen wie im »Oktoberlied«. Frühmorgens heizt schon der Ofen, tagsüber wärmt noch die Sonne. Der Winter wird kalt, bis minus zwanzig Grad. Immer ist das Feuerholz knapp und teuer, Torf kann man hier nicht kaufen. Kein Spielzimmer für die Kinder, kein Arbeitszimmer für Storm, nur die Wohnstube wird beheizt, da rückt man sich auf die Pelle und tritt sich auf die Füße.
Constanze wird darauf achten, dass ihr Herzensmann seine Ruhe hat und schreiben kann, sie wird auf seine ewig angeschlagene Gesundheit und diesbezügliche Klagen Rücksicht nehmen. Sie muss die Kinder satt werden lassen und dafür sorgen, dass sie in anständigem Schuhzeug und sauberen Kleidern zur Schule gehen. Sie muss einkaufen und sparsam wirtschaften. 150 Pfund Mehl verbraucht ihr Haushalt im Monat, kaum zu glauben, auch wenn Storm als großer Freund der Mehlspeisen bekannt ist. Aber die Originalhandschrift zeigt die 150 klar und deutlich. Im Sommer muss man die Hitze in der Wohnung durchstehen, im Winter die Kälte, im Herbst müssen Mus und Fliederbeersaft eingekocht werden, im Frühling müssen die Fenster geöffnet werden für den Hausputz, und sobald Sonne und Wind es zulassen, muss die große Wäsche losgehen, acht Tage lang drüben im Gefangenenhaus. Die Gefangenen machen mit, sie glätten die Wäsche mit der Wäscherolle, Constanze hält die Waschfrauen bei Laune und unter Kontrolle, die Gefangenen erzählen ihre Geschichten. Übrigens singen sie auch, man hört ihren Gesang manchmal in der Stormschen Wohnung, wenn die Fenster offen stehen. Singen im Gefängnis dient nicht nur der Unterhaltung, sondern ist Seelenstärkung gleichermaßen für Gefangene und deren Wachtmeister.
Woher soll Constanze die Kraft nehmen? Sie leidet an Kopfschmerzen, sie verliert Haar. Ein von Sorge, Leid und Krankheit gezeichnetes, nachdenklich lächelndes Gesicht sieht uns auf dem Foto von 1862 an. Während Mutter Constanze bis zum Hals schicklich zugeknöpft vor dem Photographen sitzt, steht neben ihr die siebenjährige Tochter Lisbeth mit schönem Kindergesicht und schönen Kinderschultern. Erinnerungen an ein Bild werden wach: Bertha von Buchan, ebenfalls vorgeführt im schulterfreien Kleid.
Veronica, du musst dein Leben ändern
Von Anfang an bekundet Storm in Heiligenstadt seine Liebe zur Landschaft. In der Potsdamer Zeit hat er sich kaum dazu geäußert. Dass er kein Auge für die unbestreitbaren Schönheiten des Landes um Potsdam herum hatte, lag an seinem Blick, der durch das Drückende der Exilerfahrung neutralisiert und für Schönheiten, die ihn sonst brennend interessierten, unempfänglich war.
Das kleine Tableau »Im Sonnenschein« erzählt einiges von der Parklandschaft in Sanssouci. Sanssouci, anonymer Ort der Erzählung, ist aber, ähnlich wie die kurze Geschichte selber, eine Kunstlandschaft, und diese war Storm nahegebracht worden
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