Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Gedicht »Crucifixus« (1865): So, jedem reinen Aug‘ ein Schauder.
Nicht nur Storm hört und sieht hier zu, er lässt auch Veronica an dieser Prozession teilhaben. Sie steht allerdings nicht am Fenster, sondern in der Tiefe des Zimmers. Das Fenster steht offen, der heilige Lärm dringt laut zu ihr herein, die Posaunen blasen einen herzerschütternden Ton, als das castrum doloris vorbeizieht. Es sind die Posaunen, die schon die Stadtmauern von Jericho haben fallen lassen und nun auch Veronica erschüttern. Sie geht zu Boden, wohl auf den Knien ruft sie mit den Worten im Lucas: »Vater, ich habe an dem Himmel gesündigt, und bin nicht wert, dein Kind genannt zu werden!«
Während die Seele der Sünderin in Sack und Asche versinkt, blendet Storm über ins dritte und letzte Bild zum Justizrat, der seine Veronica untypisch süddeutsch anredet mit »Vroni«, während Veronica ihn selber »Franz« nennt. Storms Justizrat entstammt der protestantischen Welt.
Nun fragt man sich, wie die Eheschließung des protestantischen Justizrats mit der katholischen Veronica zustande gekommen ist. Sie wäre nach den Gesetzen der katholischen Kirche nicht möglich gewesen. Zu Storms und Justizrats Zeiten gab es noch keine standesamtliche Trauung, kirchenrechtlich war keine ökumenische Trauung möglich; sie hätte für Veronica die Exkommunikation bedeutet.
Der Justizrat hat sich durch Lebenserfahrung und Bildungsanstrengung langsam und sicher von den kirchlichen Fesseln befreit, hat, ähnlich wie Storm, den eigenen Glauben entwickelt. Man könnte ihn einen Agnostiker nennen, einen, der sich im Respekt vor der Schöpfung auf die Selbstverantwortung beruft, für begangene Missetaten selber gerade stehen will und keiner Beichte und Vergebung durch die Kirche bedarf. Das ist reines Storm-Denken.
Storm schildert den Justizrat als einen Mann der Toleranz und Geduld, der Klugheit und Weitsicht, der mit seinem weiten Herzen und seinen stets im Zaume gehaltenen Gefühlen den Glaubensweg seiner Ehefrau verfolgt. Auffällig, dass Storm sein Alter Ego nicht als Sünder auftreten lässt, sondern ihn mit den Schokoladenseiten von Charakter und Persönlichkeit ausrüstet. Nun kann er Veronica, nachdem sie gezögert hat, mit gedrechselten Worten und einem typischen Storm-Diminutiv auf den Weg zur Beichte schicken: Willst Du nicht sorgen, daß das Köpfchen wieder aufrecht werde ?
Veronica betritt die Kirche. Nichts war vernehmlich, als das Flüstern in den Beichtstühlen. Als sie zur Beichte schreitet und die aufmunternden Worte des Priesters hört, Mut, meine Tochter! , verliert sie ihren Glauben. Vergeblich ist die Anstrengung des Gottesmannes, der mit allem Zauber der Überredung sein Bestes gibt. Wer die Osterbeichte versäumt hat, begeht eine Todsünde. Er zieht ohne seliges Pardon des Weges, seine Schande preisgegeben der Öffentlichkeit; denn das Abendmahl wird ihm verweigert und am Ende droht ein Begräbnis ohne den kirchlichen Segen draußen vor der Kirchhofsmauer bei den Selbstmördern.
Veronica verlässt die Kirche ohne Beichte, ohne Vergebung der Sünden und geht ins Freie auf eine Anhöhe. Dort oben, der Kirchenwelt weit entrückt, spürt sie Natur, nichts als Natur. Sie erlebt den wilden Thymian und die würzige Luft des Waldes . Vom lieben Gott spürt sie hier nichts. Ihr Blick geht nach dem blauen Gebirg hinüber , über ihr schreit ein Raubvogel, der unsichtbar in dem unermeßlichen Raum schwebte. Eine letzte Kirchenformel entfährt ihr wie ein Reflex, als unten aus der Stadt die Totenglocke läutet: Requiescat! [»Er/sie ruhe in Frieden«] .
Storm lässt Veronica nach dem durchschlagenden Beichtstuhlerlebnis den Pfad der ehelichen Tugend beschreiten. Das ist der Weg durch die reine, unschuldige Natur. Kein Kirchensymbol, kein Bibeltext oder Gesangbuchvers stören und verführen diejenige, welche die Offenbarung empfängt auf dem Läuterungsweg zum Ehemann; denn da liegt das wahre Glück.
Veronicas Gang zu ihm unterscheidet sich nicht vom Gang zum Beichtstuhl; beide Strecken sind gleich lang und gleich beschwerlich. Storm gestattet seiner Sünderin zwar aufrecht und mit festen Schritten zu ihm zu kommen, in Wahrheit aber lässt er sie kleiner und kleiner werden, bis sie bei der allein selig machenden Adresse angekommen ist, beim Ehemann: Sie aber kniete vor ihm nieder und drückte ihren Mund auf seine Hand . Hier und jetzt kriegt der Leser nun seine Gänsehaut, und der Justizrat, als allmächtige Autorität der Ehe, vergibt
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