Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
durch Rudolf Hermann Schnee, seinen Potsdamer Richter-Kollegen. Storms Interesse für den Park, das der kurzen Erzählung einige Farbe bringt, entspringt also dieser freundschaftlich-kollegialen Verbindung. In Heiligenstadt liegt das Gute nah, und er geht nicht nur mit offenen Augen durch Stadt und Land, sondern nimmt, was er sieht, in Besitz für seine Novellen und für seine Briefe, die ihre Anziehungskraft aus den Naturschilderungen gewinnen; beste Novellensprache des Dichters.
Die neue Umgebung vermittelt ihm festen Grund, er hält auf Distanz, was er sieht, verarbeitet in Sprache, was er sehen will und verwandelt es in Stil. Einerseits verleiht dieses Verfahren den Briefen ihren Reiz, andererseits muss man sich fragen: Was ist Dichtung, was ist Wahrheit?
Kennzeichnend für Storms Stilisierung ist ein Brief aus Heiligenstadt an Friedrich Eggers, den er für den Sommer 1857 zu sich ins Eichsfeld einlädt. Mit ihm will er in schattiger Schlucht, wo der Quell über uns vom Felsen herabstürzt und durch den blühenden Sauerklee herabrieselt, in sanftem Gespräche ruhen und zuschauen, wie meine Jungens an den Bergen herumklettern; ja, gegenüber an einem Felsenstück werden meine Mägde stehen und am hellen Reisigfeuer den Kaffee kochen und Flinsen backen; meine Frau wird dann mit eigener Hand den Kaffee schenken. So etwas sind wir sommers hier zu verüben imstande und haben schon die glücklichsten Proben gemacht .
Von der Rückschau auf ein schon gehabtes Picknick blickt Storm in eine fingierte Welt, und gleichzeitig nutzt er den Brief als ein Übungspapier für seine Novellenkunst.
Gleich der erste Satz aus der kleinen Novelle »Veronica« (1861) könnte einem Storm-Brief entnommen sein: Es war zu Anfang April, am Tage vor Palmsonntag. Die milden Strahlen der schon tief stehenden Sonne beschienen das junge Grün an der Seite des Wegs, der an einer Berglehne allmählich abwärts führte. Dass Storm uns hier in eine Gegend führt, die nicht seiner norddeutschen entspricht, wird deutlich durch die topographische Schilderung der Berglehne. Mit Palmsonntag führt er dem Leser Jahreszeit und Anliegen der Novelle vor Augen: Ostern und Kirche. Die Erzählung beginnt mit einer Wanderung der wichtigen Personen, des Justizrats , Storms Alter Ego, seines neben ihm gehenden Schreibers und eines den beiden folgenden jungen Paars mit der schönen jungen Frau und einem jungen Manne mit frischem, intelligenten Antlitz .
Wir befinden uns in der katholischen Glaubenswelt, deren Vorschriften die Hauptdarstellerin der Novelle, Veronica, brav befolgt. Während Advokat und Schreiber das Testamentsanliegen des Müllers unter Dach und Fach bringen, bleiben Veronica, die Ehefrau des Advokaten, und Rudolf, dessen jüngerer Vetter, draußen vor der Tür. Sie gehen durch Müllers Garten und betreten die Mühle, hören das Klappern des Werkes und das Getöse des stürzenden Wassers. Man ahnt es längst: Die beiden haben sich ineinander verliebt. Nun stehen sie voreinander, sie als Ehefrau und Sünderin, wie in Scham gebannt, das Antlitz hülflos ihm entgegenhaltend, die Hände wie vergessen in den seinen. Damit ist Rudolfs kleine Rolle beendet; er betritt die Bühne nicht mehr.
Das zweite Bild der Veronica-Geschichte erzählt vom katholischen Palmsonntag: Der Vormittag des Palmsonntags war herangekommen. Die Straßen der Stadt wimmelten von Landleuten aus den benachbarten Dörfern.[…] Voran die Waisenknaben mit ihren schwarzen Kreuzchen in den Händen, nach ihnen die barmherzigen Schwestern in den weißen Schleierkappen, dann die verschiedenen s tädtischen Schulen und endlich der ganze unabsehbare Zug von Landleuten und Städtern, Männern und Weibern, von Kindern und Greisen. […] Darüber her in gemessenen Zwischenräumen, auf den Schultern getragen, ragten die kolossalen Kirchenbilder: Christus am Ölberge, Christus von den Knechten verspottet, in der Mitte hoch über allen das ungeheure Kruzifix, zuletzt das heilige Grab .
Storm hat den Palmsonntag in Heiligenstadt selber mit großer Neugierde verfolgt und in Briefen ausführlich erwähnt. Seinem Potsdamer Richter-Kollegen Rudolf Hermann Schnee schrieb er: Vor dem castrum doloris [»Schmerzenslager« = Heiliges Grab], worin der übergroße Leichnam unter einem Schleier in scheußlicher Natürlichkeit liegt, marschiren Musikannten die einen Trauermarsch spielen; dann kommt ein Bild der mater dolorosa [Schmerzensreiche Mutter] . Scheußliche Natürlichkeit – das klingt nach im
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