Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
seiner Ehefrau, nachdem sie ihm alles anvertraut hat. Nur er, so Storms Liebes- und Ehebotschaft, besitzt die Meisterschaft, das Sündenregister zu empfangen, es zu wägen und, wie im Falle Veronica, zu reinigen.
Storm setzt mit dieser kurzen Geschichte ein Zeichen seiner Weltanschauung. Seine Ablehnung der protestantischen Kirche, die nicht gleichzeitig Ablehnung des Geistlichen bedeuten muss, erhält in Heiligenstadt neue Nahrung. Zwar ist dem wissbegierigen Theaterfreund Storm die katholische Verpackung neu und spannend, seinen Widerwillen steigert er aber bis zum Ekel, wenn er von der scheußlichen Natürlichkeit des Leichnams Christi spricht.
Die Ausgestaltung der Veronica-Erzählung mit Requisiten aus dem katholischen Fundus liegt für Storm auf der Hand. Trotzdem hat er die katholische Welt nur lose aufgesetzt, sie ist auch nicht stimmig. Storm will nicht zuerst ein Schicksal aus der Glaubenswelt erzählen, sondern ein Leben in seiner phantastisch-überanstrengten Liebes- und Erlösungswelt. Vorgeführt wird die Ehefrau. Sie ist ein politisches und gesellschaftliches Nichts ohne ihren Ehemann und nur zusammen mit ihm ein Etwas-mehr-als-Nichts.
Veronica beugt sich nicht der kirchlichen Autorität. Damit demonstriert sie eine befreiende Tat, das hat auch für den Leser etwas Befreiendes. Zugleich muss sie sich aber der weltlichen Autorität ihres Ehemannes beugen und kommt vom Regen in die Traufe. Indem sie vor ihm in die Knie geht und ihm die Hand küsst, wird das Bild des Priesterlichen vom Gotteshaus ins Haus des Justizrats gespiegelt. Echtes Befreiungsgeschehen kann sich diese Novelle nicht leisten. Eine Veronica, die vor ihren Ehemann tritt und sagt »Ich liebe Rudolf. Hier stehe ich und kann nicht anders«, hätte Storms Weltbild ruiniert. Der Dichter will das nicht, er setzt Rudolf ganz bewusst nur als Marionette in diese Novelle, und auch alle anderen Figuren sind wie aus Holz geschnitzt.
Storm erzählt eine Geschichte, die den Tempel der Kunst verlässt und im Volkspark von Kitsch und Konvention endet. Auch das Gedicht »An deines Kreuzes Stamm Herr Jesu Christ« aus der Entstehungszeit dieser Novelle rechnet mit Jesus Christus und Christentum gnadenlos ab, es endet gleichwohl mit dem für Storm typischen Griff ins Unerreichbare, Ausgeschlossene, hier in Kitsch und Heuchelei: Komm geliebtes Weib / Wir müssen unser Heiland selber sein . Das Stück vom Alles des Ehemannes in der Funktion des Erlösers und vom Nichts der Ehefrau in der Funktion der Sünderin ist eine Geschichte aus dem 19. Jahrhundert, dessen treues Kind Theodor Storm ist.
Körperlich verliere ich meine letzten Haare.
Und die Söhne? Auf Weihnachten 1862 zu
Wie sieht Storm Constanze? Erkennt er das Leid im Gesicht seiner Frau? Er könnte es sehen. Will er es auch wahrhaben? So entwickelt auch ihr Antlitz, je mehr die sinnlichen Reize der Jugend vergehen, namentlich wenn sie sich wohl und heiter fühlt, eine zarte geistige Schönheit, daß selbst gleichaltrige Frauen davon entzückt und hingerissen werden. Die seltne Einfachheit und Reinheit ihres Wesens umgibt sie immer noch wie mit einer Atmosphäre der Jugend . Seiner Mutter mag beim Lesen dieser Zeilen ungemütlich geworden sein, Vater Storm, der wissende, solide Praktiker, hat sicher nur Kopfschütteln übrig, er mag solche Poetisierung der Wirklichkeit nicht.
Wieder einmal singt der Gefangenenchor von Heiligenstadt, nachdem Constanze, im dritten Monat schwanger, am 4. Juni 1862 mit Lucie, Lisbeth und dem Kindermädchen Bertha nach Segeberg zur Erholung gefahren ist: Drüben bei offenen Fenstern singen die Gefangenen, zweistimmig, es klingt ganz hübsch , schreibt Theodor morgens um sieben an seine Frau. Er ist mit den Söhnen Hans und Karl in Heiligenstadt geblieben.
Unleidlicher Patron mit den Manieren eines alten Junggesellen, so schildert Constanze Hans, den Ältesten, in einem Brief an Mutter Elsabe. Hans hat ernste Schulprobleme und kommt trotz Pauken mit dem Vater nicht durch die Sexta. Er leidet an chronischem Husten und ist anfällig für Hautausschlag. Schon früher hatte Constanze bei ihm Rätselhaftes entdeckt, heute wissen Eltern mehr: Nur einen Beweis davon wie zart der Junge ist; neulich nahmen wir sie beide [Hans und Ernst] mit zum Conditor. Den Abend gegen 7 Uhr und jeder von ihnen aß einige Kuchen, dann gingen wir nach Hause u. richtig, Hans, der viele Nächte ruhig gelegen hatte, hustete und hatte am anderen Morgen ein geschwollenes Auge . Seine
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