Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Herzbeschwerden, die ebenfalls in das Allergie-Bild passen, kommentiert Hausarzt Dr. Rinke mit: Nichts als die Nerven ; damit hat der Doktor sicher Recht, und seine Empfehlung, der Junge solle Husumer Seeluft atmen, ist die richtige. Junge, du sollst nicht so viel denken , ist auch ein Rat, den Rinke ihm gegen die Herzbeschwerden verschreibt. Man erinnert sich: Constanze verbraucht 150 Pfund Mehl im Monat. Da wird es Mehlstaub in der Wohnung geben, und die Vermutung liegt nahe, dass Hans an einer Mehlstauballergie leidet.
In diesem Jahr ist Ernst zur Erholung nach Husum geschickt worden, Sorgenkind wie Hans, Herzbeschwerden plagen ihn schon länger. Storm und Constanze haben sich in ihren Zweitältesten verguckt. Dabei hat der Junge einen Körper, daß Pietsch, der mit ihm badete ganz entzückt von dieser Kraft und Knabenschönheit war . Storm sieht seinen Sohn gesegnet mit einer reichen und tiefen Natur . Einer von Storms euphorischen, ins Poetische gehobenen Ausflügen; nun, angesichts der Herzbeschwerden, erschrickt der Vater und meint, seinen Sohn überfordert zu haben. Papa, was soll aus mir werden? Ich glaube ich habe einen Herzfehler , sagt der verunsicherte zehnjährige Knabe und: Papa, wenn das noch lange so bleibt, werde ich wohl am Ende ein Taugenichts , zitiert ihn Constanze in einem Brief. Wer anders als die Eltern redet einem Kind die Angst vor dem Taugenichts ein?
Auch der siebenjährige Karl fürchtet sich vor einem Nichtsnutz-Dasein und fragt: Papa, bist du eigentlich auch so’n dummer Junge gewesen? Der antwortet: Nein . Wegen zu unentwickelten Geistes habe man ihn aus der Klavierschule nehmen müssen, schreibt Storm den Eltern. Wenn auch Karl nicht der Hellste ist, so ist er doch ein phantasievolles, liebenswertes, mit Humor und Schlagfertigkeit begabtes, gut gelauntes Kind. Er eifert dem Vater nach und schreibt Novellen mit Titeln wie Die rote Gans, Die Schwänze, Die Witwe und ihr Kind . Storm beklagt allerdings seine rasende Orthographie .
Dass die Stormsöhne mit ihrer wackeligen Seelen- und Körperkraft, mit dem Erwartungsdruck der Eltern nur wenig Erfolg in der Schule haben, liegt auf der Hand. Immer wieder müssen sie zu Hause bleiben oder für Monate herausgenommen werden. Wenn Hans und Ernst gute Leistungen wie im Fach Deutsch vorweisen können, dann sind sie nicht unbedingt Anlass für Vaters Lob.
Von einem liberalen, lockeren Erziehungsstil, den Storm sich immer wieder selber bescheinigt, kann keine Rede sein, zu sehr drängt der Vater sich mit den eigenen Gefühlen in die Welt seiner Kinder, lässt sie ungebrochen und macht die Kinder zu Opfern seiner von Stimmungsschwankungen belasteten Erwachsenenwelt. Wie müssen Hans und Ernst auf die egozentrischen Winkelzüge ihres eitlen Vaters antworten? Anerkennung und Erfolg werden sie nicht als eigene Leistung verstehen, sondern als Verdienst des Vaters verbuchen. Tadel und Misserfolg werden sie als Folge eigenen Versagens begreifen.
Die Storms fühlen sich in der gehobenen Bürgerschicht zu Hause. Selbstverständlich sollen ihre Söhne später auch diesem wohlhabenden Bildungsbürgertum angehören, und dafür müssen sie erst durchs Gymnasium, dann durchs Studium. Töchter müssen das nicht, sie sollen den Sprung nach oben, wie seinerzeit Constanze, die wie alle Frauen im 19. Jahrhundert nur eine schlichte Schulbildung hatte, mit dem Glückslos der Verheiratung schaffen.
Mit den Söhnen erlebt Constanze einen Lernprozess, so sieht es aus. Die Nervenprobe begreift sie einerseits als Schicksal: Wir haben rechtes Pech mit unseren Jungens, andererseits erkennt sie auch Fehler der elterlichen Erziehung: Lange Zeit haben wir uns mit der Angst geplagt, wir könnten ihn [Hans] verlieren, aber der Arzt sagt, es sei rein nervös, er sei nur überanstrengt; daher warne ich alle Menschen, Kinder nicht zu früh ernsthaft und strenge zum Denken anzuhalten, schreibt sie an Laura Brinkmann. Im selben Brief aber klagt sie über ihre sechseinhalb Jahre alte Tochter Lisbeth, denn sie kann noch nicht einmal fließend lesen, sie ist auch faul über die Maaßen. Als sie Lisbeth von Lauras weiter entwickelten Töchtern erzählt, macht das aber gar keinen Eindruck auf sie: »Ach, so was«, war ihre einzige Erwiederung, »das kann ich auch bald lernen .« Man fragt sich, was Constanze an dieser schlagfertigen Tochter auszusetzen hat und welche überzogenen Erwartungen sie hegt.
Zwar erholt sich Constanze trotz Regen und Kälte in Segeberg, während Theodor
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