Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
sich in Heiligenstadt beim Gesang der Gefangenen und beim Kakeln der Hühner über eine verpatzte Honorarangelegenheit seiner noch unfertigen Novelle »Auf der Universität« ärgert: Körperlich verliere ich meine letzten Haare dabei .
Im Spätherbst bricht in Heiligenstadt eine Scharlachepidemie aus. Auch das neue Kindermädchen wird krank und muss zu seiner Mutter ziehen. Storm zahlt Arztkosten und Verpflegung. Constanze ist recht heruntergekommen; und es ist wohl keine Aussicht mehr, daß sie vor ihrer Entbindung in die Höhe kommt . Das kann er so nicht stehen lassen, Trost muss her: Sie hat ja im Grunde eine gute Natur . Achtundachtzig Kinder sind innerhalb acht Wochen gestorben wie die Fliegen, schreibt Constanze nach Segeberg.
Lisbeth und Lucie stecken sich an. Lucie liegt in hohem Fieber und phantasiert mit ich falle! ich falle! . Constanze, inzwischen hochschwanger, hält Nachtwache. Theodor wacht mit. Da ich aber bei Tage wie ein Pferd arbeiten muß, so geht es nicht . Ob Storm die richterliche oder die literarische Arbeit meint oder beide zusammen, darüber lässt er nichts verlauten.
Wie ein Pferd muss Storm übrigens bis in den November hinein an seiner Novelle »Auf der Universität« arbeiten. Nicht nur die leidigen Honorarverhandlungen mit den Verlegern bringen Arbeit und Sorge, auch das mehrmalige Umschreiben des Textes zieht diese Unternehmung in die Länge. Von der Qualität seiner Arbeit ist Storm überzeugt, tatsächlich bietet sie gerade am Anfang betörende Prosa, die Schilderung des Wintervergnügens im dritten Bild »Auf dem Mühlenteich« ist ebenso spannend wie schön. Nervig ist wieder Storms Hang zum Diminutiv, den er der Flamme des Ich-Erzählers, Lore Beauregard, anhängt. Mit Füßchen, Schühchen, Krägelchen, Knöpfchen, Bändchen, Mäntelchen, Käppchen, Tüchelchen drechselt Storm die weibliche Hauptperson heraus, die auch ihm Flamme sein könnte.
Eine schwache Seite zeigt die Novelle in ihrem lockeren Gefüge, das dem Muster des Immensee-Tableaus folgt. Da Storm die tragische Liebesgeschichte der Lore Beauregard aus der Perspektive eines Ich-Erzählers gestaltet, gerät er in Nöte, wo von Geschehen, Ort und Zeit die Rede sein muss, die der Ich-Erzähler selber nicht erlebt haben kann. Storm hilft sich aus der Klemme, indem er eine Hilfserzählerin, die lahme Marie, beruft und sie nahtlos und unglaubwürdig im Ton des Ich-Erzählers fortfahren lässt. Hier landet die Novelle auf einer Durststrecke, und der Leser bezahlt mit Langeweile für den handwerklichen Fehler des Autors. Storm spürte das, auf Fontanes Vorhaltungen antwortet er: Der Übelstand mit der lahmen Marie, den ich freilich wohl empfunden, aber vergeblich zu ändern gesucht, muß nun wohl für immer daran haften. Das kommt davon, wenn man mit »Ich« anfängt . Endlich erscheint im November 1862 die auf 1863 vordatierte Novelle bei Brunn in Münster. Sie ist Eduard Mörike in alter Liebe und Verehrung zugeeignet. Der liebe schweigsame Mann erhält das erste von Storm verschickte Exemplar, Mörike antwortet nicht.
Während Storm schon an einer Weihnachtserzählung arbeitet und Constanze, mit ihrer Kraft am Ende, den Familienbetrieb aufrechterhalten muss, geht es ihr im Ganzen genommen ziemlich wohl . Und wie viel Geld für Arzt und Apotheke wieder ausgegeben werden musste, klagt sie ihren Eltern. Es hört nicht auf: Nun kommt das Wochenbett mit allem was daran bimmelt und bammelt . Nichtsdestoweniger kann Constanze etwas erfreulich Wichtiges nach Segeberg berichten: Theodor hat unter all diesen Krankheitsgeschichten wieder eine neue Novelle geschrieben; eine Weihnachtsgeschichte »unter dem Tannenbaum« für die große illustrierte »Leipziger Zeitung« 100 Reichstaler
hat er dafür bekommen. Am 25. November hat Storm seine Novelle an die Illustrirte Zeitung abgeschickt, am 20. Dezember erscheint sie in diesem Wochenblatt. Ob er Zeit findet für seine Weihnachtslieblingsbeschäftigungen? In den Wald gehen, einen Baum erklettern, um sich die schönsten Zapfen abzubrechen? Kann er, zusammen mit den Kindern, Tannen- und Fichtenäpfel mit Schaumgold vergolden? Hat er Zeit, um der Hausfrau für die Weihnachtskuchen Mandeln und Zitronat zu hacken? Kann er, wie sonst in der Weihnachtszeit, Kardamom und Hirschhornsalz im Mörser kleinstoßen? Zieht ihm der Duft vom Kuchenbacken in die Nase? Darüber erfahren wir von den Storms zu Weihnachten 1862 kaum etwas. Constanze schreibt am Ende des Jahres ihren Eltern, und es
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