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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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klingt nach Erleichterung: Jetzt aber sind die Weihnachtsfesttage glücklich überstanden .

Unter dem Tannenbaum: Der Duft der Erinnerung
    Es grenzt an ein Wunder: Storm findet in dieser von Krankheit und Sorgen gezeichneten Zeit am Ende des Jahres Ruhe und Muße. Hinsetzen und konzentrieren, phantasieren und erinnern, schreiben und gestalten. Die Weihnachtsgeschichte »Unter dem Tannenbaum« erschafft eine Welt der Tradition und Zuversicht, Gesundheit und Stärke. Sie ist die erdichtete Gegenwelt zur tatsächlichen Familienlage, sie ist die Heimweherzählung eines Mannes in den Vierzigern, mit scharf ausgeprägten Gesichtszügen, aber milden, lichtblauen Augen unter dem schlichten, hellblonden Haar . So hat Storm, der um Weihnachten 1862 fünfundvierzig Jahre alt ist, sein Alter Ego gezeichnet, den Amtsrichter, der dem nördlichsten deutschen Volksstamm angehört. Da sprechen nicht nur übertriebener, Storm-untypischer Nationalstolz und Selbstverliebtheit, sondern der Blick auf sich selber ist auch ein Akt der Selbstvergewisserung und Selbstberuhigung, Heilbehandlung in eigener Sache. Starker Wille und das auf den Nägeln brennende Bedürfnis, die reale Welt mit einer fiktiven zu bannen, tragen den Dichter an seinen Platz, an den Ort der Poesie, der bei Storm immer eine Stätte des Erinnerns ist.
    In dieser Weihnachtsgeschichte hilft Storm der Erinnerung des Amtsrichters auf die Sprünge in einer Weise, wie sie weihnachtstypischer für einen Schleswig-Holsteiner nicht sein kann. Mit Hilfe »brauner Kuchen«, die zu Weihnachten mehr als alles andere Gebäck gebacken und in bunt bemalten Dosen aus Blech aufbewahrt werden. Braune Kuchen, frisch aus der Backstube, legt die Frau des Amtsrichters ihrem Gatten auf den Tisch: Deine Mutter backt sie dir nicht besser .
    Er brach einen Brocken ab und prüfte ihn genau; aber er fand Alles, was ihn als Knaben daran entzückt hatte; die Masse war glashart, die eingerollten Stückchen Zucker wohl zergangen und kandiert. Damals wurde der Zucker von einem Zuckerhut abgeschlagen; folglich war er gröber als der Zucker von heute, also bildeten sich im Teig die kleinen harten Kandisstücke. »Was für gute Geister aus diesem Kuchen steigen«, sagte er. Die guten Geister sind die Geister der Erinnerung.
    Bei Storm geschieht die Erinnerung durch Sinneswahrnehmung; Auge und Tastsinn prüfen, Geschmacks- und Geruchsnerven liefern der Erinnerung Ort, Zeit und waltende Umstände. Die Sprache des Dichters greift alles auf und formt den Erzählstrom. Storm berührt hier die Studierfächer Psychologie und Physiologie und betreibt damit ein raffiniertes literarisches Spiel – beinahe ein Vorgriff auf Marcel Proust, der mit Hilfe von Biskuit,
den Madeleines , und einem Schluck Tee seine Erinnerung wachruft: In der Sekunde nun, als dieser mit Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog . Ein unerhörtes Glücksgefühl durchfährt den Erzähler. Und Storm, anders als Proust, der seinen Protagonisten zunächst in einen Sinnenrausch versetzt, lässt den Amtsrichter gleich nach der ersten Kuchenprobe zur Sache, nämlich nach Hause, kommen, wo er einer handfesten Welt begegnet.
    Es ist Storms Vaterhaus in Husum in der Hohlen Gasse, es sind Vater, Mutter und Geschwister, der Kutscher und der Schreiber, die Mägde und die Köchin, die Nachbarn und Freunde, die der Dichter in seine Weihnachtsstimmung holt, sie sind ihm zu Diensten und stärken die eigene Seelenlage. Ich habe darin […] Onkel Woldsen ein kleines Liebesdenkmal gesetzt , schreibt Storm nach Hause. Damit ist ein Familienmitglied aus Mutter Storms entfernter Verwandtschaft gemeint, der Weihnachtsonkel Ingwer Woldsen (1785–1857), ein unverheirateter, wohlhabender Gewürzhändler und Reeder, der mit seiner ebenfalls ledigen Schwester bei den Storms um die Ecke in der Krämerstraße wohnte. Der gehört zum alljährlichen Weihnachtsbetrieb in der Hohlen Gasse wie Tannenbaum und Pfeffernüsse, wie der brausende Teekessel und die braunen Kuchen, wie die singenden Kinder, die sich für ihren Gesang an der Haustür ein Geldstück oder einen Futjen oder beides verdienen und in den Sammelsack stecken. Futjen sind so kennzeichnend für Storms Weihnachten wie die braunen Kuchen, sie heißen auch »Förtchen« und werden als Hefeteig mit Milch und Butter, Eidotter und Eischnee, Rosinen und Rosenwasser angerührt. Dann ist die Frage: Ist der

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