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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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genannt »Tine«, beherbergt die Kinder ihres Bruders. Bestimmt hat sie die Aufgabe übernommen, ihnen den Husumer Schliff beizubringen.
    Christian Albrecht Woldsen war Geschäftsmann auf der Insel Saint Thomas, die, zusammen mit Saint Croix und Saint John, seit 1666 zum Kolonialreich des dänischen Gesamtstaates gehörte. Die »Dansk Vestindiske Kompagni« brachte viel Geld in die dänische Staatskasse. Zuckerrohr und Sklavenhandel sorgten für sprudelnde Einnahmen auch in den Herzogtümern.
    In Westindien also trieb Christian Albrecht Woldsen seine Geschäfte, von dort kam seine Tochter Alida, die als unehelich geborener Mischling Jenni in der Novelle ihre Rolle spielt. Das wird Storms Novelle fast zum Verhängnis, denn Julius Rodenberg, verantwortlicher Redakteur der zumeist von Frauen gelesenen Zeitschrift »Der Bazar«, lehnt die Veröffentlichung ab, weil die Heldin ein uneheliches Kind ist. Erschienen ist sie dann aber doch im Januar 1865 in »Westermanns Illustrierten Deutschen Monatsheften«. Für Storm ein wichtiges Datum, denn nun beginnt die bis zu seinem Tod andauernde Zusammenarbeit mit dem Verleger Westermann in Braunschweig.
    Storm ist nicht der Erste, der das Rasse-Thema aufgreift. Schon Heinrich von Kleist hat in seiner Novelle »Die Verlobung in St. Domingo« (1811) das Schicksal der Tochter eines französischen Kaufmanns und einer Mulattin gestaltet: Toni. So nahe die Namen Toni und Jenni beieinander sind, so nahe beieinander sind auch die Orte der beiden Novellen. Saint Thomas liegt auf derselben nördlichen Breite wie Santo Domingo (heute: Dominikanische Republik) und nur fünf Längengrade ostwärts, etwa 520 Kilometer entfernt.
    Mit dieser Reichweite ist aber auch alle Ähnlichkeit erschöpft. Während Kleist seine Novelle mit Rassenunterschied und Klassenhass gestaltet, ist Storm am politischen Hintergrund seiner Geschichte wenig interessiert. Er benutzt ihn lediglich als Zierrat; denn Politik ist Storm immer erst dann wichtig, wenn sie ihm selber an den Kragen geht. Jennis Konflikte und Probleme erwachsen nicht ihrer Lage als Mischling, sondern bewegen sich in der altbekannten Stormschen Figurenwelt. Jenni kommt am Ende dort an, wo Storm seine Frauengestalten gern landen lässt: in den Armen des Mannes, dem sie sich zu Füßen legt. So verpasst der Dichter eine Gelegenheit, gestaltet seine Novelle im gewohnten Fahrwasser. Er legt wieder einmal einen Rahmen, aus dem ein Ich-Erzähler spricht, um das Ganze und nervt mit seiner Betulichkeit und Umständlichkeit den Leser. Darüber hinaus lässt er den Binnen-Erzähler Alfred, in dem viel Storm steckt, seine Geschichte ebenfalls aus der Ich-Perspektive erzählen, die Geschichte von Alfred und Jenni. Mit Alfreds Worten sprechen die handelnden Personen eine Sprache aus Formeln und Floskeln, die mehr nach Storm als nach ihnen selber klingt, und damit ist sie weder wahr noch echt.
    Bezaubernd schöne Prosa, die Alfreds, Jennis und auch Storms Kinderzeit heraufruft, erfreut den Leser. Die Kinder laufen über Dachböden, sie spielen »Räuber und Soldat«, sie klettern auf Bäume; einmal fällt Alfred vom Birnbaum, Jenni stürzt zu ihm und bezirzt ihn mit ihren exotisch-feurigen Augen. Der Erzähler stattet das Kind Jenni mit den Diminutiven aus, die Storm so liebt.
    Auch die Beschwörung einer tief romantisch nachgeschriebenen Eichendorff-Welt richtet als einsame Insel in der Novelle mehr Schaden als Nutzen an; fern im Abseits liegt hier Westindien, von dem sich der Leser doch Spannung und Erkenntnis erhofft. Der größte Schaden aber folgt aus den Ich-Perspektiven der beiden Erzähler. Sie können nur das vermitteln, was allein sie hören und sehen, und mit diesem Problem handelt sich der Autor die Schwierigkeit ein, die ihn schon in seiner Novelle »Auf der Universität« zu einer Notlösung zwang. Während er dort eine Hilfserzählerin einschaltet, benutzt er hier zwei Briefe als dramaturgische Hilfskräfte. Sie müssen das leisten, was der Erzähler selber nicht leisten kann: die Novelle in ihr Happy End aus Kitsch und Konvention führen. Damit misslingt Storm, wie schon in der Geschichte von der schönen Lore Beauregard, die Ausformung eines vielversprechenden Stoffes.
    Warum legt Storm nicht mehr Wert auf die künstlerische Vervollkommnung seiner Erzählung? Die Antwort liegt im Nichtkünstlerischen: Immer muss er den Blick nach vorn richten, immer bleibt viel zu tun übrig. Die Familie braucht ihn als Oberhaupt und Geldbeschaffer, und dafür

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