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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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Pietsch. Seinen Sohn Hans hält er in diesem Sommer auf dem Laufenden über die Fortschritte beim Dichten und Denken. Im August 1867 kann er dem alten Tunnel-Freund Friedrich Eggers bereits von zwei neuen Novellen berichten: »In St. Jürgen« und »Eine Malerarbeit«. Ich schrieb die beiden Sachen hintereinander fort, da verließ mich zuletzt die Kraft .
    »St. Jürgen« liegt in Storms Husum, es ist das »Gasthaus zum Ritter St. Jürgen«; seine Geschichte reicht bis ins Mittelalter. Es wurde gebaut als Armen- und Altenstift für Menschen, die nach der Not des Lebens noch vor der ewigen Ruhe den Frieden suchen. So schön wie dieser Satz ist auch der Beginn der Novelle: Es ist nur ein schmuckloses Städtchen, meine Vaterstadt; sie liegt in einer baumlosen Küstenebene, und ihre Häuser sind alt und finster. Dennoch habe ich sie immer für einen angenehmen Ort gehalten, und zwei den Menschen heilige Vögel scheinen diese Meinung zu teilen . Von Schwalben und Störchen ist die Rede. Störche hatten ihr Nest zu Storms Zeiten auf fast jedem Husumer Haus. Die Schwalben sehen wir heute noch. Damals wie heute zwitschern sie ihr altes Lied: Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm. Das ist das Thema dieser Novelle.
    Erzählt wird die Geschichte vom Tischler Harre Jensen, der in der Fremde sein Glück sucht für sich und die geliebte, zu Hause bleibende Agnes Hansen. Der Ich-Erzähler, hinter dem sich wieder einmal Storm selber versteckt, nennt sie allein mit ihrem Nachnamen »Hansen«, und so redet er sie auch an; eine seltsame Sitte, die heute in Husum immer noch praktiziert wird.
    In der Fremde findet Harre Arbeit und Brot bei einem Klavierbaumeister. Als der stirbt, schloß ich auf den Wunsch der schon herangewachsenen Kinder das Ehebündnis mit der Frau, deren einzige Stütze ich so lange gewesen war .
    Wenn auch diese Novelle vorgetragen wird von einem Ich-Erzähler, dem wiederum die eigentliche Geschichte von zwei weiteren Erzählern berichtet wird, wenn auch des Autors Umständlichkeit und sein Klappern mit dem Handwerk offensichtlich ist mit inzwischen verbrauchten Sätzen wie Die Erzählerin schwieg eine Weile oder Der Alte schwieg eine Weile und die vom Autor gesponnenen Fäden die Geschichte nicht immer überzeugend zusammenhalten, wenn auch Erinnerung an Storms »Immensee« und »Angelica« wach wird und mehr Entsagung als Aufbegehren durch die Novelle scheint, so wird sie doch getragen von starken Bildern, von kraftvoller Poesie und nicht zuletzt von Harres verborgenem Willen. Das Leid wird gebannt, auch das Leid von Rührseligkeit und Trivialität, auch das durch die Industrialisierung dieser Zeit verursachte Handwerkerleid, das Storm hier nebenbei streift.
    Wichtiger aber als der Gedanke an Gewinn und Verlust ist ihm wieder das Motiv des Zögerns und Verharrens, das uns zuletzt in der Novelle »Drüben am Markt« begegnete. Harre. Nomen est omen? Wie weit mögen die ersten beiden Verse eines bekannten Kirchenliedes seine Persönlichkeit prägen: Harre meine Seele / Harre des Herrn?
    Nachdem Harre seinem Meister auf dem Totenbett versprochen hat, sich um die Witwe und die Kinder zu kümmern, nachdem er sie dann geheiratet hat, bringt er es nicht fertig, seiner Frau den tief in ihm sitzenden Wunsch auszusprechen: Ich möchte meine alte Agnes wiedersehen. Weil er es nicht schafft, entwickelt er Hassgefühle gegen sie; und die haben sich inzwischen fest bei ihm eingenistet. Während einer gemeinsamen Wanderung droht Gefahr: seine Frau steht am Rande eines Abgrundes, er steht wie gelähmt. Es brauste mir in den Ohren: »Bleib, laß sie stürzen; du bist frei!« Aber Gott half mir. Storm wagt einen tiefen, realistischen Blick in die Menschenseele. Lange vor Freud versteht er davon viel, mehr noch: Lange vor Freud kann er darüber mit einfachen, verständlichen Worten schreiben. Gleich lässt man die Spöttelei über ihn und den lieben Gott, der dem gläubigen Harre erschienen ist, man erkennt ernüchtert mit tausendmal abgegriffenen Worten: So ist das Leben. So ist es tatsächlich, wenn Harres Frau ihm nun den Wunsch von den Augen, den Fenstern der Seele, abliest und ihn damit erlöst: Du mußt die Agnes wiedersehen . Erlösung, das heißt auch Wachrufen, Harre wird wachgerufen; er kann seine Reise antreten.
    Storm hat für diese Novelle eine Vorlage aus dem »Volksbuch auf das Jahr 1849 für Schleswig, Holstein und Lauenburg« benutzt. Auch die handelt von Handwerk und Abschied, Fremde und Heimkehr. Er bedient

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