Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
gerecht geworden zu sein. Zu sehr steckt er noch in der Sorge um den Sohn, den begabten; aber an heilloser Willensschwäche leidenden Hans , wie Ferdinand Tönnies in seinen »Gedenkblättern« über ihn schreibt. Er kommt auch nach dem bestandenen Examen nicht nach Hause und zieht weiter unstet umher. Seine Doktorarbeit ist nicht fertig geworden, er hat den Abgabetermin verstreichen lassen. Storm ist der Doktor-Titel für sein gesellschaftliches Selbstverständnis wichtig, er hat ihn immer wieder voreilig und leichtsinnig hinausposaunt: Hans wird (…) wohl als junger Doctor hier auf die Bühne treten , schrieb er schon vor zwei Jahren an Brinkmann.
Während »Carsten Curator« seinen Weg zu Westermann nach Braunschweig geht, Storm auf die Korrekturbögen wartet und Schmidt und Petersen einbeziehen möchte in anstehende Textrevisionsarbeiten, geht das Schicksal mit Hans unbeirrt seinen Weg. In Würzburg verweigert man ihm die Approbationsurkunde, weil er dort erhebliche Schulden hinterlassen hat und seine Geldgeber Einspruch erhoben haben. Mit den fünfunddreißig Talern, die ihm sein Vater gibt, brennt er durch und verschwindet, bis Bruder Ernst ihn endlich nach Hause holt, und er mag nun selbst sehen, wie er sich den Doctor holt, der ja auch nur eine Verzierung des »praktischen Arztes« ist , schreibt Storm, sich selber tröstend, an Ludwig Pietsch.
»Carsten Curator«
Dass Storm seine Freunde Petersen und Schmidt an den Korrekturen des »Carsten Curator« beteiligen will, ist nicht verwunderlich; denn beide stehen ihm gerade jetzt besonders nahe. Der Familienvater hat sie teilhaben lassen an seinem Unglück mit Hans, und auch jetzt hält er sie mit der weiteren Entwicklung auf dem Laufenden. Sie kennen den biographischen Hintergrund und sind neugierig; sie wollen wissen, wie der Dichter das Lebensdrama als Novelle gestaltet. Schmidt findet neben großem Lob auch kritische Worte: Manches scheint zu kurz abgeschüttelt, nicht abgelöst . Hier blickt einer fest auf des Dichters Lebenslage, klar erkennt er dessen augenblickliche Seelenverfassung. Auch Gottfried Kellers Echo ist zurückhaltend: Der »Carsten Curator« ist ja ganz schön, durchsichtig und vollkommen fertig . So beginnt er vielsagend seine Kritik, und Wilhelm Jensen meint, er könne nicht sagen, dass ihm die Novelle erquicklich gewesen sei.
In allen Selbstzweifeln und schwarzseherischen Erwartungen fährt Storm mit »Carsten Curator« doch eine reiche Ernte ein. Das Lob von Kollegen und Freunden überwiegt. Professor Held aus Würzburg sieht darin das große Pathos des Daseins in der lieblich-unvergleichlichsten Form . Storms Gewicht als Schriftsteller ist bedeutend. An seinen Bruder Otto schreibt er in diesen Tagen: Mein Ansehen in der Literatur ist jetzt so groß, daß ich – Ihr sprecht aber, bitte, nicht davon – für den Abdruck dieser 2 ½ Bogen großen Novelle in der Zeitschrift 3000 M. erhalte . Dreitausend Mark Honorar von Westermann sind bisheriger Rekord in der Stormschen Künstler-Arbeitslohngeschichte.
»Carsten Curator« gehört wie »Aquis submersus«, »Renate« und »Zur ›Wald- und Wasserfreude‹«, die in dieser Schaffensperiode entstehen, zu seinen längeren Arbeiten. Bei der Zählung der Gegensatzpaare Tag/Nacht, Leben/Tod und Morgen/Abend fällt das Gewicht schwer in die Wörter Nacht, Tod und Abend. Dunkelheit und Sterben begleiten das Thema dieser Geschichte. Auch das beglaubigt der Dichter selber: Im Leben wie in der Poesie können wir wohl das Glück entbehren, aber nicht die Hoffnung ; und die fehlt in meiner Dichtung. Sie wurde in hoffnungsloser Stimmung niedergeschrieben, erklärt er seinem neuen, jungen Freund Erich Schmidt, nachdem die Novelle in den »Westermanns Monatsheften« im April 1878 erschienen ist.
Die kleine Hafenstadt und ihre Umgebung weisen auf Husum und Nordfriesland. »Twiete« und »Krämerstraße«, »Norderstraße« und »Süderstraße« werden genannt, Viehexport nach England und Austernzucht werden erwähnt, Husums Tage während der Kontinentalsperre (1806–1814) zu Napoleons Zeiten werden heraufgerufen, das nahe gelegene Ostenfeld taucht auf, Flensburg und Hamburg sind in das Geschehen eingeflochten.
Storm gelingt ein Glücksgriff mit seinem allwissenden Erzähler, der den Stoff fest und entschlossen packt und die Novelle in ihre künstlerisch gelungene Form zwingt. Wenn auch in der Geschichte des Carsten Curator eine Lebensspanne Zeit vergeht, so gibt es keinen Verzug, keinen Leerlauf,
Weitere Kostenlose Bücher