Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Storm.
Storms Haus als Hort für freies selbstverantwortliches Denken als erste selbstverständliche Lebensbedingung steht allerdings nur ihm selber zur Verfügung. An Wahrheit und Wirklichkeit geht sein Blick vorbei. Die Entscheidung der beiden, den Liebesfaden abzuschneiden, hat darin ihren tieferen Grund. Friedlich und traurig haben sie das gethan , klingt irgendwie zufrieden aus Storms Feder in einem Brief an Karl.
Storm bleibt auch nach der aufgelösten Verlobung noch lange in echter Storm-Treue mit Kirchner in Verbindung, denn er wird mir trotzdem immer lieb bleiben wie ein Sohn . Der wird später Apothekenbesitzer in dem kleinen katholischen Dorf Bissendorf bei Osnabrück .
Was soll nun aus Lucie werden? Wird die inzwischen in die Jahre gekommene einundzwanzigjährige junge Frau noch einen Mann abkriegen? Das Umherreisen und Herumreichen, die Suche nach einem neuen passenden Mann gehen wieder von vorne los. Zunächst wohnt sie wieder zu Hause, sie hilft im Haushalt, allerdings mit herabgesetzter Stundenzahl, weil sie am Mannhardtschen Institut ihre Kenntnisse in Englisch und Französisch, Geographie und Geschichte vervollkommnen soll, denn brennend aktuell ist wieder das Thema Hausdame und Gouvernante, aber sie müßte – denn daß eine Gelegenheit zur Heirath nicht ausgeschlossen bleibe, ist für mich die Hauptsache – dabei die meiner Tochter zukommende Stellung in der Geselligkeit haben , schreibt Storm an Karl.
Im Februar 1882 geht Lucie zu Ernsts künftigen Schwiegereltern für ein Jahr nach Tondern; Storm zahlt 300 Mark für Kost und Logis. Bei den Krauses fühlt Lucie sich wohl, und siehe da: Die Gesichtsschmerzen plagen sie weniger; sie hilft sich auch selber mit ihrer Anpassungsbereitschaft und zuversichtlich-unverzagten Lebensstimmung, sie trifft auf kluge, wohlmeinende Menschen mit praktischem Interesse für Musik und Theater, sie kann ihrer Begabung freien Lauf lassen. Sie hat mehrmals als alte Jungfer u. junge Frau, zuletzt zum Besten der Ueberschwemmten, mit Beifall Comödie gespielt . Storms Worten zufolge scheint Lucie auf der Tonderaner Bühne das eigene Lebensschicksal aufzuführen.
Nach einem Jahr Tondern aber hat Lucie genug; dort hat es nicht gefunkt wie in Heiligenstadt. Sie wechselt Briefe mit ihrem Bruder Hans, dem Arzt in Frammersbach; der hätte sie gern, wie Lisbeth, bei sich, um ihm den Haushalt zu führen und Ordnung in sein unordentliches Leben zu bringen. Wie können wir am besten Vater überreden, dass ich zu dir komme? So mag Lucies Frage lauten. Die reise- und unternehmungslustige Schwester käme dann ein wenig weiter in den Süden, München und Paris lägen näher. Es müsste dann nicht wieder Hademarschen oder Husum sein, wo sie bei den Reventlows und den Tönnies‘ ihre Warteschleifen nähte und Ausschau hielte. Vielleicht also bisse da unten am Main, im schönen Frankenland, jemand an?
Hans steht mit seiner Stiefmutter Doris auf dem besseren Fuß und adressiert seine Briefe nach Hause an sie; mit »Liebe Eltern« fängt er an und mit »Euer Sohn H. Woldsen-Storm« unterschreibt er. Vor einem Jahr hatte er seine Eltern zu überreden versucht, ihn einmal in Frammersbach zu besuchen. Storm lehnte das brüsk ab. Für Hans noch ein Grund mehr, die Briefe bei Doris landen zu lassen. Wegen Lucie fragt er also bei ihr an. Sie kapiert sofort: Lute wünscht sich sehnlichst einen Wirkungskreis wo sie selbständig schaffen und wirken kann; sie würde Dir sympathischer sein als Lisbeth, und Dir Dein Haus vielleicht angenehm machen; sie ist ja auch amüsant u beschäftigt sich zusammen mit Dir auch gern mit Lesen und dergleichen . Zwar kehrt Doris den Namen Lisbeth behutsam hervor, aber dass schon einmal ein von ihr kräftig unterstützter Hilfeversuch in Heiligenhafen in der Katastrophe endete, verdrängt sie.
Storm erfährt erst mit Verspätung vom Familien-Komplott, schaltet sich dann ein mit einem Brief an Hans. Die Sache liegt ihm schwer auf dem Herzen , er meint, Lucie ziehe in eine Einsamkeit, aus welcher für sie keine Beziehungen ins Leben hineinführen. Storm sieht für Lucie dort nicht den Mann ihres Lebens. Die Verantwortung, dass die Schwester in einer erträglichen und zukunftsweisenden Gegenwart und Gesellschaft lebe, liege allein beim Bruder. Dann spricht Storm das alte, immer noch brennende Problem an: Und nun frage ich Dich, hast Du Deinen Dämon – Dein letzter Brief, sowie Dein Bild sprechen nicht dafür – wenigstens so weit bezwungen, daß Du Deiner
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