Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
bestimmten Zuwendung, heimlich an Tee und Zucker bereichern und damit Diebstahl begehen. Die »langen Finger« des Dienstmädchens sehen kürzer aus, wenn man sie als Werkzeuge des Jahresverdienstes wahrnimmt. Storms Schwager Lorenzen verdiente als fest angestellter schleswigscher Deichkondukteur 480 Reichsbanktaler, das entsprach 300 Reichstaler Kurant; damit verdiente er fast vierzehnmal so viel wie das Dienstmädchen.
Hier, im Haushälterischen, hielt Storm sich an das Bekannte und Herkömmliche, im Lebens- und Liebesideal hatte er während der Verlobungszeit Neuland betreten, seine unverrückbare Meinung entwickelt und am Ende unverrückbare Verhältnisse geschaffen: Für den Akt der Eheschließung brach er vor seiner und vor Constanzes Familie mit der Tradition.
Die lange Verlobten wollten so schnell wie möglich den notwendigen Büro-Akt der Eheschließung hinter sich bringen. Sie sehnten das Datum herbei und die Zeit danach; verheiratet fühlten sie sich längst. Von diesem Gefühl sollte aber niemand etwas wissen. Beide hofften auf das neue Heim, auf den Garten mit den Gemüsebeeten, mit dem kleinen Lusthaus, umrankt von duftendem Jelängerjelieber und Jasmin, sie wollten allein sein, abgeschirmt und so wenig Besuch wie möglich; sie träumten vom Klavier im gut geheizten Wohnzimmer, von der heimeligen gemeinsamen Teestunde, vom Gespräch über Musik und Gesang, Bücher und Menschen, vom gemeinsamen Schlafengehen und Nahebeieinandersein.
Nahe beieinanderstehen ist auch geboten bei der Trauzeremonie, denn wenn man bei der Trauung zwischen Braut und Bräutigam durchsehen kann, dann kommt der Teufel dazwischen, schreibt der Bräutigam der Braut noch kurz vor Toresschluss. Das mag auch scherzhaft gemeint gewesen sein, aber eine kleine Ladung Aberglaube, die Storm stets bei sich trägt, ist dabei. Da steht das Brautpaar also am 15. September 1846 nahe beieinander im Festsaal des Segeberger Rathauses, tief in der Seele fällt die kleine Ladung Aberglaube ins Gewicht, über ihm ein bunt bemalter Kronleuchter, der auch heute noch unter der Decke schwebt. Pastor Fabricius aus Ahrensbök, ein Verwandter der Familie Esmarch, vollzieht den Akt.
Verflucht, wer diese Priestercomödie nicht verabscheut! , hatte Storm an Constanze geschrieben. Es handelt sich hier, im Rathaus, das gleichzeitig das Wohnhaus der Esmarchs ist, nicht um eine standesamtliche Trauung; sondern um die von einem Kirchenmann vollzogene Eheschließung außerhalb der Kirche. Die »Zivilehe«, vollzogen durch einen Standesbeamten, wird erst 1875, eine Generation später, im kaiserlichen Deutschland eingeführt, und die wäre ganz nach Storms Geschmack gewesen.
Storm hat sich einen »Königsbrief« bei der herzoglichen Verwaltung in Gottorf besorgt, die Sondergenehmigung des dänischen Königs für eine Haustrauung; Kostenpunkt: 14 ½ Reichsbanktaler. Dafür kann er Ort und Zeit der Trauung selber bestimmen und entgeht der »Abkündigung«, nämlich der von der Kanzel in die evangelische Gemeinde gerufenen Verkündung der durch die Kirche vollzogenen und sanktionierten Ehe.
Während seiner Reise nach Segeberg wird Storm durch den Kopf gegangen sein, ob der Pastor für ihn auch wirklich »Junggeselle« und »Jungfrau« für Constanze in die Urkunde schreiben würde? Kein »D« für »Deflorata« (entjungfert) , kein »I« für »Impraegnata« (geschwängert)? Storm wusste, warum man die Kirche fürchten und gleichzeitig hassen konnte; sie spielte sich auf als Hüter der Moral und übte damit tatsächlich fühlbare Macht aus, indem sie in das Lebensschicksal der Menschen eingriff und sie nicht selten ins Unglück steuerte.
Weder Eltern noch Geschwister und sonstige Verwandtschaft aus Husum begleiteten Storm auf seiner Reise. Er wollte das so. Die plötzliche Erkrankung von Schwester Helene war sicherlich kein Grund; denn sie hatte ja seit drei Wochen ihren Ehemann zur Seite, der sich hätte kümmern können. Anzunehmen ist, dass Vater und Mutter Storm den Wunsch ihres Sohnes respektierten: kein rauschendes Fest und so wenig Aufhebens wie möglich nach dreiunddreißig Monaten auferlegter Verlobungszeit. Sollten sie unter den Mitwissenden und Ahnenden gewesen sein, dann war ihnen das Fernbleiben gerade recht.
Hochzeitsnacht in Segeberg? Das rief Scham und Empörung vor Entdeckung und Blamage auf den Plan: Es ist doch genirt, dann noch eine Nacht in Segeberg zu bleiben. Wir entgehen dadurch der unverschämten Besichtigung nach der vermeintlichen
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