Du kannst mich einfach nicht verstehen: Warum Männer und Frauen aneinander vorbeireden (German Edition)
Unterbrechung zu warten. Ref 90
Der Soziologe Stephen Murray gibt ein Beispiel für einen seiner Meinung nach prototypischen Fall von Unterbrechung – eine Person fällt der anderen ins Wort und schneidet ein völlig anderes Thema an, obwohl der erste Sprecher noch gar nicht zum Zuge gekommen ist. Hier das Beispiel:
Dieser einfache Austausch zeigt, wie komplex Unterhaltungen sein können. Viele Leute meinen, dass ein Gastgeber das Recht, wenn nicht die Pflicht hat, seinen Gästen etwas zu essen anzubieten, gleichgültig, ob gerade ein Gespräch im Gange ist oder nicht. Etwas zu essen anzubieten wie auch die Bitte, das Salz oder ein anderes Gewürz herüberzureichen, hat Priorität; wenn der Gastgeber mit seiner Aufforderung warten würde, bis alle still sind, und die Gäste warten würden, bis niemand mehr etwas sagt, bevor sie um eine Schüssel vom anderen Tischende bitten, dann würden umso mehr Gäste hungrig nach Hause gehen, je besser das Gespräch ist.
Das soll nicht heißen, dass der Zeitpunkt, zu dem jemand etwas zu essen anbietet, immer der richtige Zeitpunkt ist. Wenn ein Gastgeber die anderen gewohnheitsmäßig immer dann mit seiner Frage unterbricht, wenn jemand gerade den Höhepunkt einer Geschichte oder den Gag eines Witzes erzählt, könnte man das als Verletzung von Rechten oder Ausdruck von missgünstigen Motiven betrachten. Aber der Vorwurf, andere zu unterbrechen, kann sich nicht wie in diesem Fall auf ein einziges Beispiel stützen.
Ein unterschiedlicher Gesprächsstil trübt einen klaren Kommunikationsfluss. Der eine ist vielleicht in einer redelustigen Familie aufgewachsen, in der Aufforderungen zum Essen sich mit der laufenden Unterhaltung überlappten, während der andere vielleicht aus einer Familie kommt, wo wenig gesprochen und Essen nur dann angeboten wurde, wenn eine Gesprächspause entstand. Wenn zwei derartige Leute zusammenleben, wird der eine wahrscheinlich erwarten, dass der andere gleich weitererzählt, wenn er zwischendurch etwas zu essen anbietet, während der überlappungsaversive Partner sich unterbrochen fühlt und sich vielleicht sogar weigert, das Gespräch wiederaufzunehmen. Beide wären im Recht, weil Unterbrechungen nicht nach einem allgemeingültigen Maßstab definierbar sind. Die Beurteilung ist eine Sache der individuellen Wahrnehmung von Rechten und Pflichten, die sich ihrerseits aus individuellen Erfahrungen und Erwartungen ableiten.
Unterbrechungen ohne Überlappungen
Bei den angeführten Beispielen ist das Überlappen – zwei Leute, die auf einmal reden – nicht zwangsläufig eine Unterbrechung, das heißt eine Verletzung der Rederechte eines anderen. Es gibt aber auch Fälle, wo die Sprecher das Gefühl haben, in ihren Rechten beeinträchtigt zu werden und sich vielleicht sogar unterbrochen fühlen, wenn keine Überlappung auftritt. Ein Beispiel für so einen Fall taucht in Alice Greenwoods Analyse von Tischgesprächen auf, die ihre drei Kinder (die Zwillinge Denise und Dennis, zwölf, und Stacy, elf) mit ihren Freunden führten. In dem folgenden Beispiel spielen Denise und Stacy ein gewohntes Gesprächsritual durch, um den vierzehnjährigen Mark, den Freund ihres Bruders, zu erfreuen. Die beiden Schwestern führen diesen Dialog, den Greenwood die Betty-Routine nennt, häufig auf. Bevor sie anfangen, lenken sie Marks Aufmerksamkeit auf sich: »Hör mal zu, Mark. Hör mal zu.« Dann kündigen Denise und Dennis an: »Das ist total witzig.« Aber Mark ist anderer Meinung:
Denise (mit Betty-Stimme): Entschuldigung, bist du Betty?
Stacy: O ja, das bin ich.
Denise (mit Betty-Stimme): Betty wer?
Stacy (mit Betty-Stimme). Bettybitabittabuttabut. (Dennis, Denise und Stacy lachen.)
Mark: Waaaas? (Dennis, Denise und Stacy lachen hysterisch.)
Dieser Standarddialog löste bei den drei Geschwistern – und bei anderer Gelegenheit auch bei ihren Freunden – fröhliches Gelächter aus, aber Mark stimmte nicht ein und behauptete, den Witz nicht verstanden zu haben. Denise und Stacy versuchten, es ihm zu erklären: Ref 91
In diesem Gesprächsausschnitt schneiden Denise und Stacy sich wiederholt das Wort ab, wie die Pfeile und vertikalen Linien zeigen, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie das übelnehmen. Als jedoch ihr Bruder Dennis ihnen ins Wort fällt, um nach dem Essen zu fragen (»Hat schon jemand was gegessen?«), stört es sie offenbar, weil er sie damit in ihren Erklärungen unterbricht (Denise protestiert: »Hör mir zu, hör doch mal zu,
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