Du lebst nur zweimal
holte Sandwiches und für jeden eine Flasche saké aus einer Tasche. Während sie aßen, zog an Backbord die zerklüftete grüne Küste mit ihrem gelben Sandstrand vorbei. Tiger deutete auf einen entfernten Punkt am Horizont. »Kuro«, sagte er. »Freuen Sie sich, Bondo-san! Sie scheinen mit Ihren Gedanken woanders zu sein. Denken Sie doch an all die wunderschönen nackten Mädchen, mit denen Sie jetzt bald herumschwimmen! Und an diese japanische Greta Garbo, mit der Sie die Nächte verbringen werden!«
»Und an die Haifische, die nur darauf warten, daß ich zum Schloß hinüberschwimme!«
»Wenn sie die Amas nicht auffressen, warum sollten sie dann über einen zähen Engländer herfallen? Sehen Sie die beiden Fischadler da oben? Das ist ein sehr gutes Vorzeichen. Einer allein wäre weniger günstig gewesen. Vier hätten Unglück bedeutet, denn für uns ist die Vier das gleiche wie für Sie die Dreizehn. Macht es Ihnen eigentlich keinen Spaß, sich vorzustellen, daß dieser dumme Drache jetzt ganz ahnungslos in seinem Schloß schläft, während St. Georg lautlos über die Wellen auf seine Höhle zukommt? Das wäre ein Stoff für eine sehr unterhaltsame japanische Erzählung.«
»Ihr habt schon eine komische Auffassung von Humor, Tiger!«
»Er ist eben anders als Ihrer. Die meisten unserer lustigen Geschichten drehen sich um Tod und Unglück. Ich bin kein guter Erzähler, aber ich möchte Ihnen trotzdem meine Lieblingsgeschichte erzählen. Es geht dabei um ein junges Mädchen, das zur Zollbrücke kommt. Sie wirft dem Wächter einen Sen zu, das ist ein kleines Geldstück, und geht weiter. Der Wächter ruft hinter ihr her: >He, du weißt doch genau, daß der Zoll für die Überquerung der Brücke zwei Sen beträgt!< Das Mädchen antwortet: >Aber ich will die Brücke ja gar nicht überqueren. Ich will nur bis zur Mitte gehen und dann ins Wasser springen.<« Tiger schüttelte sich vor Lachen.
Bond lächelte höflich: »Den muß ich mir für London merken. Sie lachen sich sicher tot!«
Der kleine Punkt am Horizont wurde größer, und bald erkannte Bond eine kleine hornförmige Insel mit steilen Klippen und einem nach Norden gerichteten Fischerhafen. Auf dem Festland gegenüber stieß Dr. Martells kleine Halbinsel ins Meer vor, und die schwarze Mauer ragte senkrecht aus dem Wasser auf. Darüber sah man die Wipfel der Bäume und hinter ihnen das geschwungene Dach des obersten Stockwerkes des Schlosses. Bond schüttelte sich leicht, als er daran dachte, mitten in der Nacht zu dieser Festung hinüberschwimmen zu müssen. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit ganz auf Kuro.
Die Insel schien aus schwarzem Vulkangestein zu bestehen, doch zog sich eine üppige Vegetation bis hinauf zum Gipfel eines kleinen steilen Hügels, auf dem eine Art steinerner Leuchtturm stand. Als sie um die felsige Landzunge bogen und in die Bucht hineinglitten, tauchten ein kleines Dorf mit dicht zusammengedrängten Hütten und ein Landungssteg vor ihnen auf. Draußen auf dem Meer schaukelten etwa dreißig Ruderboote, und ab und zu blitzte es im Sonnenlicht hell auf, wenn eines der Mädchen ins Wasser sprang. Nackte Kinder spielten zwischen den glatten schwarzen Felsblöcken, die sich aus der Entfernung wie badende Nilpferde ausnahmen. Grüne Netze waren zum Trocknen aufgehängt. Es war eine hübsche Kulisse - von jenem märchenhaft friedlichen Zauber, der allen Fischerdörfern der Welt eigen ist. Bond fühlte sich sofort von der Insel angezogen, als habe er endlich einen Bestimmungsort erreicht, der ihn erwartete und mit offenen Armen aufnahm.
Die Dorfältesten - ernste hagere alte Männer mit dem Schintopriester an der Spitze - erwarteten sie auf dem Landungssteg. Der Priester hatte seine Kultgewänder angelegt - einen dunkelroten dreiviertellangen Kimono mit weiten Hängeärmeln, einen türkisfarbenen Rock mit breiten Falten und den traditionellen glänzend schwarzen Hut. Er war ein Mann von schlichter Würde und überlegener Haltung mit einem runden Gesicht, einer runden Brille und einem entschlossenen Mund. Seine klugen Augen beobachteten prüfend jeden, der aus dem Polizeiboot stieg; besonders lange ruhten sie auf Bond. Superintendent Ando wurde freundschaftlich und respektvoll begrüßt. Die
Insel gehörte zu seinem Amtsbezirk, und er entschied über die Fischereilizenzen, dachte Bond boshaft; doch mußte er zugeben, daß die Verbeugungen nicht übertrieben waren und daß er in Ando einen guten Fürsprecher hatte. Sie gingen langsam über
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