Du lebst, solange ich es will
entlangführt. Und dann hat sie sich umgedreht und etwas zu mir gesagt, oder?
Aber ich kann mich nicht erinnern, was.
Ich bin noch nie in einem Mini Cooper gefahren. Es ist cool. Das Armaturenbrett ist aus Holz und T-förmig und der Tacho ist so groß wie ein Teller. Und statt des nervigen Piepens, das sonst losgeht, wenn man sich nicht angeschnallt hat, erklingt eine eingängige Melodie, die sich nach original Disco-Ära anhört. Ich muss fast lächeln.
Als ich mich auf den Beifahrersitz setze, reicht mir Gaby ein paar Ausdrucke. Es ist ein Routenplan zur falschen Adresse.
»Wie ist das möglich?«, frage ich. »Die Bullen haben doch gesagt, die Adresse gibt es gar nicht.«
»Das weiß der Routenplaner aber offenbar nicht. Er rechnet wahrscheinlich einfach aus, wo die Adresse sein müsste, und leitet einen dorthin. Selbst, wenn die Adresse gar nicht existiert.«
Trotz Routenplaner ist es schwer, die Adresse zu finden. Nachdem wir von der Hauptstraße abgebogen sind, begegnet uns kein einziges Auto mehr. Die Straße ist so schmal, dass kaum zwei Autos aneinander vorbeikommen würden. Schotter säumt den Seitenstreifen. Weit und breit gibt es kein Haus, nichts. Nur ein Schild mit Einschusslöchern, das mit einer Geldstrafe von 500 Dollar droht, sollte jemand Müll abladen.
Die Straße, in der sich das Haus angeblich befindet, liegt laut Internet in der Nähe einer alten Müllhalde. Vor fünfzig Jahren haben Firmen, die kurz vor dem Ruin standen, Teer und Teeröl in den Fluss geschmissen, damit sie nicht mehr für die Müllbeseitigung aufkommen mussten.
In der Ferne sehe ich etwas Weißes, aber es dauert eine Weile, bis ich erkenne, was es ist. Jemand hat am Straßenrand ein weißes Kreuz aufgestellt, als wäre dort jemand bei einem Autounfall gestorben. Wir halten ungefähr sechs Meter davon entfernt an, steigen aus und gehen schweigend darauf zu. Unsere Schritte knirschen auf dem Schotter. Rechts von uns rauscht der Fluss, aber ich kann ihn nicht sehen.
Es ist unheimlich, das Kreuz anzusehen. Kreuze bedeuten Tote, doch niemand hat gesagt, dass Kayla tot ist. Vielleicht wissen Kaylas Eltern schon mehr als Pete, wissen, dass es ihr Blut war, oder haben sogar schon ihren Leichnam identifiziert. Ich stelle mir vor, wie man sie aus dem Fluss gezogen hat, die Haut weiß und fast violett verfärbt, die wirren schwarzen Haare auf ihrem Gesicht.
Kaylas Foto aus dem Schuljahrbuch klebt in der Mitte vom Kreuz, wo sich die beiden Holzstäbe treffen. Auf der einen Seite vom Kreuz steht KAYLA mit lila Glitzer, auf der anderen CUTLER. Am Fuße des Kreuzes liegt ein lilafarbener Teddybär.
»Wenn ich an Kayla denke, denke ich nicht an weiße Kreuze und lila Teddys«, sage ich. Kayla hat nie über Religion geredet und sie kam mir nicht vor wie ein Mädchen, das immer noch Plüschtiere mag.
»Wer weiß.« Gaby holt tief Luft und ihre Lippen zittern. »Verfolge mich.«
Ich habe gehört, was sie gesagt hat, begreife es aber nicht. Das heißt, vielleicht schon, aber ich will es nicht glauben. »Was?«
»Verfolge mich. Zum Fluss runter.«
Ich tue nicht länger so, als würde ich nicht verstehen, was sie von mir will. »Es ist noch hell«, sage ich. »Damals war es dunkel. Es ist nicht dasselbe.«
»Bitte«, fleht sie, »verfolge mich.« Sie läuft ein paar Schritte, bleibt stehen. Ihre Augen glänzen.
»Das ist verrückt. Das ist krank. Du hast doch gehört, was die Polizei gesagt hat. Er wollte Kayla.«
Gaby schüttelt so heftig den Kopf, dass ihre Haare fliegen. »Das glaube ich nicht.« Sie verzieht das Gesicht, presst die Hand vor den Mund. Sie sieht aus, als würde sie gleich weinen oder sich übergeben. »Es hätte mich treffen sollen«, flüstert sie hinter der Hand.
Ich stoße die angehaltene Luft aus. »Aber wieso soll ich dich verfolgen?«
»Ich drehe sonst durch, Drew! Ich muss ständig daran denken. Ich mus S wissen, wie Kayla sich gefühlt hat.«
Der vierte Tag
GABY
Ich stelle mir vor, wie Kayla rennt. Ich habe sie schon öfters beim Softball rennen gesehen. Sie ist schnell. Clever. Riskiert etwas, startet von der Base, bevor der Ballwerfer geworfen hat. Sie lässt keine Chance ungenutzt. Immer ein Lächeln auf den Lippen.
Vor meinem inneren Auge rennt Kayla in die Dunkelheit, die Arme angewinkelt, keuchend vor Panik.
Aber wieso ist sie aus dem Auto ausgestiegen? Sie hätte die Türen von innen verriegeln und auf die Hupe drücken können; hätte ihr Handy benutzen oder einfach davonfahren können. Sie
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