Du machst Schule!: Warum das Bildungssystem versagt, was junge Menschen wirklich lernen müssen und wie wir ihnen dabei helfen
stört, Regeln bricht, unentwegt etwas zu sagen hat, nachfragt, sich Dinge viele Male erklären lässt, sich meldet und dann alle warten lässt, weil er noch einmal nachdenken möchte. Zwischendurch muss er etwas trinken, auf die Toilette gehen, er hält Terminabsprachen nicht ein. Eine Frist zur Abgabe von Ausflugsgeld hielt er nicht ein, obwohl der Lehrer ihm erklärt hatte, dass Rafael dann abends mit dem Bus durch die Stadt fahren und es ihm nach Hause bringen müsse. Warum sollte er sich auch darüber Sorgen machen: Er schickte seiner Mutter eine SMS, die daraufhin das Geld zur Schule brachte.
Bob tickt ähnlich. Was ihm an Charme und Schönheit fehlt, macht er mit Intelligenz wett. Er zieht genauso viel Aufmerksamkeit auf sich wie Rafael, nur stört er, indem er ständig die Lösungen in den Raum brüllt, herumwitzelt, sich auf seinem Stuhl herumflegelt und die Klasse mit showreifen Einlagen unterhält. Rafael und Bob sind ein gutes Gespann, sie treiben unaufhörlich Schabernack, genießen es, die Lehrer an den Rand des Wahnsinns zu treiben und die Mitschüler zu beeindrucken. Ein gutes Lernklima ist schier unmöglich. Beide haben überhaupt keine Ambitionen, sich in die Klasse einzufügen.
Sie liefern sich einen Wettstreit, wer die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht. So haben sie bereits die schönsten Mädchen der Klasse unter sich als Freundinnen verteilt. Sie bestimmen, wer sich in ihrem Umfeld aufhalten darf und wer nicht. Die schönsten Mädchen dürfen in ihrer Nähe sitzen, andere werden für nicht gut genug befunden. So geht es den ganzen Tag, Rafael und Bob haben alles unter Kontrolle, verfügen über Mitläufer, die etwas vom Glanz abhaben möchten und sich in ihrer Anwesenheit aufgewertet fühlen. Unter dieser Atmosphäre leidet eine ganze Klasse: 90 Prozent der Schüler können nicht in Ruhe lernen, weil ihre Aufmerksamkeit ständig durch die Blödeleien der beiden abgelenkt wird. Die meisten Lehrer beklagen sich nur hinter geschlossener Tür im Lehrerzimmer, haben schon längst vor den Machenschaften der beiden kapituliert, zumal beide aus »guten« Elternhäusern stammen. Darüber hinaus zeigen die Eltern jeweils schon durch Beruf und Auftreten, dass »man etwas Besseres« ist.
Senia ist das Mobbingopfer in dieser Klasse. Sie ist äußerst hilfsbereit, ständig da, wo Not am Mann ist. Sie ist eine mittelmäßige Schülerin, lebt in einem einkommensschwachen Elternhaus und könnte viel mehr aus sich machen, wenn sie ihre Energien weniger in eine Haltung der Arbeitsvermeidung und mehr in ihre Handlungsfähigkeit investieren würde. Sie kennt Rafael aus der Grundschulzeit und leidet sehr darunter, dass er sich von ihr abgewandt hat. Sie möchte gern im Zentrum mitmischen und bei Aktivitäten aller Art dabeisein. Zur Durchsetzung ihrer Interessen wählt sie die Opferrolle und spekuliert so auf das Mitgefühl zumindest eines der Klassenkönige. Also biedert sie sich häufig an, was dazu führt, dass sie noch mehr abgewertet wird. Mittlerweile steht sie auf verlorenem Posten, sie kann aus ihrer Rolle nicht mehr heraus und empfindet ihr Leben als schlimm und überflüssig. Damit zieht sie förmlich Menschen an, die sie dominieren und kontrollieren.
Wanja ist eine weitere Schülerin dieser Klasse, die unter den Mädchen ihre Machtposition immer weiter festigt: Ihr Auftreten ist arrogant, sie wertet die anderen ab und lebt ein offen aggressives Verhalten, das die Mädchen einschüchtern soll. Gern macht sie Lehrer, die nicht nach ihrem Geschmack sind, im Internet schlecht, um zu demonstrieren, dass es jedem so ergehen wird, der sich nicht ihrem Willen beugt. Im Unterrichtsgeschehen selbst verhält sie sich eher unauffällig. Sie fährt offen ihre Attacken gegen ihre Mitschülerin Senia und keines der Mädchen gebietet ihr Einhalt.
Wie soll in solch einem Klassenklima guter Unterricht stattfinden können, der die individuelle Entwicklung der Persönlichkeit eines jeden in den Mittelpunkt stellt? Das geht nur, wenn vom Lehrer Regeln aufgestellt werden, die jedem Schüler einen geschützten Lernraum garantieren. Und da geht’s los: Wer den »Ellbogen« Grenzen setzt, riskiert, sich selbst einen schmerzhaften Stoß einzufangen. Die »Schläge« kommen dann meist von Eltern, Kollegen, der Schulleitung oder der Bezirksregierung. Kein Wunder, dass viele Pädagogen vor einem Kampf gegen Windmühlen kapitulieren und lieber die Augen verschließen. Solange Schulen sich weiterhin selbst belügen und vor
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