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Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mats Wahl
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in Aufregung und watschelten schnatternd durch das Gras zum See davon.
    »Die Schere findest du im Keller«, brummte er.
    Dann ging er zur Treppe, und die ganze Zeit fürchtete ich, er würde fallen.
    In der Türöffnung drehte er sich um, stützte sich mit der Hand am Türrahmen ab und zeigte mit dem Stock auf die Enten. Es sah aus, als wollte er etwas sagen, senkte jedoch den Stock, ohne einen Ton von sich zu geben.
    Das Schwierigste war, die Hecke gleichmäßig zu schneiden. Manchmal stieß ich auf besonders kräftige Zweige, in denen die Schere stecken blieb. Erst nach mehreren Versuchen gelang es mir, den Zweig abzutrennen. Meine Arme wurden rasch müde. Besonders den Zweigen, die in Kopfhöhe oder noch höher saßen, war schwer beizukommen, ohne dass mir die Arme lahm wurden.
    Während ich mit der Schere arbeitete, dachte ich darüber nach, wie ich Mama beibringen könnte, dass ihr Vater gleich nebenan wohnte. Ich sagte es laut vor mich hin, während die Schere knirschte. »Ich habe etwas Seltsames herausgefunden. Unser Nachbar ist mein Großvater! Er ist dein Vater!« Oder: »Es ist etwas Seltsames passiert! Ich habe deinen Vater getroffen. Er ist unser Nachbar!« Oder: »Der Deutsche ist dein Vater! Im Krieg hat er zwei Finger verloren. Vielleicht solltest du mal zu ihm rübergehen und ein paar Worte mit ihm wechseln?«
    Natürlich würde sie fragen, was ich meinte, und dann würde ich es wiederholen: Der Deutsche ist mein Großvater. Dann würde sie noch einmal fragen, und ich würde sagen, Tatsache, unser Nachbar ist dein Vater.
    So redete ich mit mir selber, während ich die Hecke von der Straße bis zum See hinunter schnitt. Zum See hin wurde die Hecke immer dünner, und auf den letzten Metern stand nur noch ein einsamer verlassener Ligusterbusch.
    Als ich den Strom abschaltete und die Schere weglegte, waren meine Arme total lahm. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht einmal mehr Kraft hatte, die Heckenschere an ihren Platz zurückzulegen,aber ich ging in den Keller und zog den Stecker heraus. Dann rollte ich die Leitung doch auf und trug alles miteinander wieder in den Keller. Nachdem ich die Sachen auf dem verstaubten Tisch abgelegt hatte, auf dem Berger Schraubenzieher, Hammer, alte Scharniere, Kittdosen und Pakete mit Messingschrauben gesammelt hatte, kam ich auf die Idee, die innere Kellertreppe zu benutzen.
    Also kletterte ich die Innentreppe hinauf, die ziemlich steil war. Ganz oben war es finster. In der schmalen Tür vor mir war ein Schlüsselloch, durch das ein wenig Licht drang. Ich öffnete sie und stand in Bergers Diele.
    »Hallo!«, rief ich und schloss die Tür hinter mir. »Wo sind Sie?«
    Ich ging zur Küchentür, aber in der Küche war nur die Fliege. Die wirkte noch größer als kürzlich und brummte gegen das Fenster, als hätte sie nie etwas anderes getan. Der Geruch verriet, dass Berger den Abfall immer noch nicht nach draußen gebracht hatte.
    »Hallo!«, rief ich und ging ins Wohnzimmer. Dort war alles unverändert. Die kleine Statue stand auf den Rezepten unter den gerahmten Fotografien, die Sonne schien durch die Sprossenfenster, und in der Luft tanzte Staub auf eine Art, die einem klarmacht, dass es sehr viel mehr gibt, als was man zu sehen meint. Erst wenn sich das Licht verändert, sieht man, was immer unsichtbar vorhanden gewesen ist.
    Da hörte ich ihn.
    Er stöhnte, und ich ging zu der Treppe, die zum Obergeschoss führt. Sein Stock lag unten auf der Diele, er selber mitten auf der Treppe. Er lag auf der linken Seite, und sein linkes Bein war in einem seltsamen Winkel abgespreizt. Er stöhnte wieder.
    »Ich bin’s, Tom«, sagte ich. »Was ist passiert?«
    Er stöhnte nur.
    »Schmerzen«, sagte er. »Schmerzen.«
    Seine Augen waren geschlossen, und ich erinnerte mich an eine der letzten Englischstunden in Sundsvall kurz vor Ende des Winterhalbjahres. Einer aus der Klasse sollte so tun, als wäre er krank, als läge er auf der Straße, und man sollte 112 anrufen und erklären, dass man Hilfe brauchte. Ich hatte vor dem Katheder gelegen und gesagt: »I have lost my eyes, I have lost my eyes!« Linda Skolling hatte so getan, als würde sie 112 anrufen:
    »There is a boy in the street. He has no eyes! Please help him! He can’t see!«
    Ich wusste also genau, was ich zu tun hatte.
    Ich bekam nicht sofort eine Verbindung, aber nach einer Weile meldete sich eine Frau, die fragte, was passiert war. Ich erzählte, dass ein alter Mann auf einer Treppe liege, und es sehe aus, als

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