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Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mats Wahl
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verschwand im Haus. Ich setzte mich auf die heiße Treppe. In den Apfelbäumen hingen Nistkästen, einer in jedem Baum, auch in den Birken. Im Gras vor der Treppe stand ein konisches, rot gestrichenes Blechgebilde mit Dach, groß wie ein Wassereimer. Es war an einer Betonröhre befestigt. Ein Futterautomat für kleine Vögel. Karl Berger war ein Freund der Spatzen, Meisen und Finken, das war offensichtlich.
    Er klapperte in der Küche, und es klang, als hätte er ein Glas in die Spüle fallen lassen. Nach einer Weile kam er mit einem tellergroßen Silbertablett in der einen Hand und dem Stock in der anderen aus dem Haus. Es sah gefährlich aus, als er sich anschickte, die drei Treppenstufen hinunterzusteigen. Er setzte den linken Fuß vor und hielt das Tablett mit der rechten Hand vor sich wie ein Seiltänzer seine Stange, während er sich gleichzeitig mit der Linken auf den Stock stützte. Jeden Moment drohte er zu stürzen.
    Neben der Treppe standen ein kleiner runder Gartentisch und ein Stuhl aus Metall. Der Alte stellte das Tablett ab und ließ sich auf den Stuhl sinken.
    »Uff«, seufzte er. »Das war Schwerstarbeit.«
    Er faltete beide Hände über dem Stock, beugte sich vor und atmete durch den offenen Mund. Nachdem er sich etwas erholt hatte, warf er mir einen Blick zu.
    »Bitte sehr.«
    Ich stand auf und nahm ein Glas. Es enthielt eine braune kalte Flüssigkeit, die sehr gut Tee sein konnte. Mitten auf dem kleinen Tablett war ein Ritter abgebildet, der seine Lanze in einen Drachen bohrte.
    »Mmph!«, schnaubte er und starrte mich unverwandt an. Seine Stimme war sanft wie lauwarme Milch. Seine Zähne waren gelb und klein.
    »Bist du so nett und holst mir meine Medizin? Sie liegt auf dem Klapptisch im Zimmer gleich rechts, wenn du ins Haus kommst. Dort steht ein Haufen Döschen. Ich brauche das Nitromex. Würdest du das für mich tun?«
    Ich nickte, stand auf und ging ins Haus.
    Der Vorraum war klein, ganz anders als bei uns drüben. Es gab drei Türen. Die eine stand offen und führte nach links in die Küche. Die Küchenschränke sahen aus, als hätte sie schon lange keinen Maler mehr gesehen. Die Tür gegenüber der Haustür war geschlossen. Rechts führte eine ebenfalls offene Tür in ein Wohnzimmer, das mit dicken Teppichen ausgelegt war, die Wände waren mit Bücherregalen bedeckt. Die drei Sprossenfenster gaben den Blick frei auf den See. Die Möbel in dem Zimmer waren schwer und dunkel, ähnlich denen, die Großmutter gehabt hatte.
    Auf dem kleinen Tisch neben der Tür zum Vorraum sah ich die Medizindöschen, mindestens ein halbes Dutzend. Dort lagen auch mehrere geöffnete Kuverts und einige Rezepte, die mit einer streichholzschachtelgroßen Büste beschwert waren. Sie stellte eine Frau mit einer auffallend hohen Kopfbedeckung dar.
    Über dem Tisch hingen zwei schwarz-weiße verglaste Fotografien. Auf dem obersten Foto war eine Propellermaschine, die durch einen weißen Wolkenhimmel flog. Sie sah aus wie eine Kampfmaschine. Das Schwarz-weiß-Bild darunter zeigte drei Personen, alle so um die zwanzig, die sich die Arme um die Schultern gelegt hatten. Der Mann ganz rechts trug einen doppelreihigen Anzug, der linke Mann eine Uniform. Sie schauten ernst drein, während die Frau in der Mitte lachte. Sie standen in einem Garten unter blühenden Obstbäumen.
    Ich nahm das Döschen mit der Aufschrift »Nitromex« undging wieder nach draußen. Karl Berger saß über seinen Stock gebeugt, und ich stellte die Dose vor ihn hin. Er murmelte ein fast unhörbares Danke, griff nach der Dose und schraubte den Deckel mit zitternden Händen auf.
    »Bitte.« Mit der einen Hand zeigte er auf das Tablett, während er sich mit der anderen eine Tablette in den Mund schob.
    Ich probierte das Getränk. Es war kalt und schmeckte ein wenig bitter.
    »Schmeckt’s?«
    »Danke, gut.«
    Er schwieg eine Weile. Dann spähte er zum Dachfirst hinauf, nachdem er den Kopf etwas gedreht hatte.
    »Die Schwalben sind weg. Ich möchte wissen, wie es ihnen jetzt geht. Die können doch wohl noch nicht angekommen sein im Süden?«
    Er schwieg eine Weile, bevor er weiterredete.
    »Meiner Schwester wurde Afrika zum Verhängnis. Sie war auch eine Art Schwalbe.«
    Ich leerte mein Glas und stand auf.
    »Das war gut.«
    »Manche bleiben am Nil. Andere ziehen weiter nach Süden. Im nächsten Jahr kehren sie zurück. Niemand weiß, wie die Schwalben das mit der Orientierung schaffen.«
    »Dann komme ich also morgen zum Rasenmähen.«
    Der Alte

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