Du oder der Rest der Welt
hüpft er vom Stuhl.
Ich stelle den Korb zurück in das geheime Versteck, das jeder kennt. Als ich mich umdrehe, bricht Brandon sich schon ein Stück Schokolade ab und schiebt es sich in den Mund.
»Kiara, warum siehst du wie ein Mädchen aus?«, fragt Brandon, den Mund voll Schokolade.
»Ich bin verabredet. Mit Carlos.«
»Wirst du ihm einen Zungenkuss geben?«
Kiara wirft ihm einen strafenden Blick zu. »Brandon! So etwas fragt man nicht! Wer hat dir davon erzählt?«
»Die Viertklässler im Bus.«
»Was haben die Viertklässler gesagt, was es ist?«
Er guckt sie betreten an. »Das weißt du doch …«
»Sag’s mir«, meint sie. »Vielleicht weiß ich es ja nicht.«
Ich weiß aus erster Hand, dass sie weiß, was ein Zungenkuss ist, aber ich verrate ihr Geheimnis nicht.
»Es ist, wenn man die Zunge des anderen leckt«, flüstert er.
Verflucht, der Zwerg weiß mehr als ich in seinem Alter. Zuerst outet er sich als Cyber-Drogendealer, und jetzt redet er über Zungenküsse. Kiara sieht mich hilfesuchend an, aber ich hebe abwehrend die Hände. Obwohl ich nichts lieber täte, als ihr hier und jetzt einen Zungenkuss zu geben, kann ich bis nachher warten. »Er ist dein Bruder …«
»So kann man sich eine Menge Bazillen einfangen«, sagt Brandon, der immer noch kaut und über die Konsequenzen von Zungenküssen philosophiert.
»Absolut«, erwidert Kiara. »Stimmt’s, Carlos?«
»Stimmt. Bazillen. Jede Menge davon.« Ich erzähle ihm nicht, dass die Bazillen einiger Mädchen es wert sind.
»Das mach ich nie im Leben«, verkündet er.
»Es wird auch niemand mit dir machen wollen, cachorro , wenn du deinen Mund nach dem Schokoladenessen nicht abwischst. Du bist widerlich.«
Als Kiara nach einer Serviette greift und Brandon das Gesicht abwischt, sieht er sie neugierieg an. »Du hast meine Frage gar nicht beantwortet. Wirst du Carlos einen Zungenkuss geben?«
48
Kiara
»Brandon, hör auf, mich das zu fragen, oder ich verrate Mom, dass du gerade ohne ihre Erlaubnis Schokolade genascht hast.« Ich beuge mich vor und küsse ihn auf die nun saubere Wange. »Aber ich liebe dich trotzdem.«
»Blödie«, sagt Brandon, aber ich weiß, dass er nicht sauer ist, denn er hüpft fröhlich aus der Küche.
Endlich sind wir allein. Carlos stellt sich hinter mich und streicht sanft mein Haar zur Seite, sodass mein Nacken frei liegt. » Eres hermosa «, flüstert er in mein Ohr. Allein der Klang der spanischen Worte lässt mein Inneres wie Wackelpudding erzittern.
Ich wirble herum und sehe ihn an. »Danke. Das zu hören habe ich gebraucht.«
»Ich sollte unter die Dusche springen und mich anziehen gehen, aber ich möchte dich lieber weiter ansehen.«
Ich stoße ihn weg, obwohl ich in Wahrheit dahinschmelze, weil er nicht aufhören kann, mich anzustarren. »Geh. Ich will meinen ersten Highschool-Ball nicht verpassen.«
Eine Dreiviertelstunde später stehe ich immer noch in meinen hochhackigen Schuhen da, weil ich Angst davor habe, mein Kleid zu zerknittern, wenn ich mich setze. Mom hat darauf bestanden, mir die Fingernägel rosa zu lackieren, also widerstehe ich der Versuchung, an ihnen rumzupfriemeln, obwohl ich ganz zappelig bin. Wir sind im Garten, wo meine Mom und mein Dad ein Foto nach dem anderen schießen, wie ich neben dem Haus stehe, neben einer Topfpflanze, neben meinem Auto, mit Brandon zusammen, am Gartenzaun und …
Carlos öffnet die Schiebetüren aus Glas und tritt auf die Veranda. Ein schwarzer Anzug und ein weißes Button-down-Hemd haben sein omnipräsentes T-Shirt und die zerrissene Jeans ersetzt. Allein ihn anzusehen, gestylt für mich , lässt mein Herz schneller schlagen, und meine Zunge wird dick und schwer in meinem Mund. Erst recht, als ich das Blumengesteck in seiner Hand entdecke.
»Oh, du siehst so gut aus. Es ist lieb von dir, dass du Kiara zum Homecoming ausführst«, sagt meine Mom. »Das wünscht sie sich schon so lange.«
»Es ist mir ein Vergnügen«, erwidert Carlos.
Ich halte die Klappe und erzähle meiner Mom nicht, dass er mich nur gefragt hat, weil wir uns mit Handschlag darauf geeinigt haben. Ich bin ziemlich sicher, dass wir ohne den Deal nicht in den besten Klamotten, die wir besitzen, hier stünden.
»Hier«, sagt Carlos und streckt mir die Corsage entgegen, deren Blumen lila-weiße Blütenblätter und gelbe Köpfchen haben.
»Zieh es ihr an, Carlos«, sagt meine Mutter aufgeregt und hält die Kamera bereit.
Mein Dad zwingt meine Mom, den Fotoapparat zu senken.
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