Du oder der Rest der Welt
nicht nach hinten fällt. Der Professor ist ein harter Hund, alles klar. Bis hinunter zu seinen Designer-Slippern.
»Irgendwelche Vorschläge?«, fragt Alex. »Uns sind die Ideen ausgegangen.«
Westford hebt einen Finger hoch. »Ich kann vielleicht helfen. Wann sollst du ihn treffen?«
»Heute Nacht.«
»Ich werde mit dir gehen«, sagt Westford.
»Ich auch«, schaltet sich Alex ein.
»Yippieh! Wir gründen unsere eigene kleine Renegados Gang.« Ich lache kurz auf. »Man kann nicht einfach so zu Devlin gehen.«
»Wart’s ab«, sagt Westford. »Egal, was es kostet, wir holen dich da raus.«
Will der Typ mich verarschen? Er ist nicht mein Fleisch und Blut. Er sollte mich als Bürde und Verpflichtung empfinden, nicht als jemand, um den es sich zu kämpfen lohnt.
»Warum tun Sie das?«, frage ich.
»Weil du meiner Familie etwas bedeutest. Hör zu, Carlos. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich dir etwas über meine Vergangenheit erzähle, damit du verstehst, wo ich herkomme.«
Das muss ich unbedingt hören.
Ich lehne mich in meinen Stuhl zurück und bereite mich darauf vor, mir eine lange, wehleidige Geschichte anhören zu müssen, wie gemein seine Eltern zu ihm waren, weil sie ihm nicht das Spielzeug gekauft haben, das er sich zu seinem sechsten Geburtstag gewünscht hat. Oder dass ihn in der Highschool jemand verprügelt hat, damit er sein Geld fürs Mittagessen rausrückt. Vielleicht hat es ihn auch fertiggemacht, dass seine Eltern ihm zu seinem sechzehnten Geburtstag ein gebrauchtes Auto gekauft haben und kein nigelnagelneues. Erwartet der Professor tatsächlich von mir, dass ich Mitleid mit ihm habe? Ich schlage ihn doch um Längen, wenn es darum geht, wer die traurigere Geschichte zu erzählen hat.
Westford rutscht unbehaglich auf seinen Schreibtischstuhl hin und her, dann atmet er hörbar aus. »Meine Eltern und mein Bruder sind bei einem Autounfall gestorben, als ich elf war.« Wow. Damit hatte ich nicht gerechnet. »Wir waren eines Abends auf dem Weg nach Haus, während es schneite, und mein Dad verlor die Kontrolle über den Wagen.«
Warte. »Sie waren auch in dem Auto?«
Er nickt. »Ich erinnere mich, dass der Wagen ausbrach und ins Schleudern geriet.« Er zögert. »Dann an den LKW, der mit dem Auto zusammenstieß. Ich höre noch immer die Schreie meiner Mutter, als sie in die großen Scheinwerfer blickte, die direkt auf sie gerichtet waren. Mein Bruder sah mich hilfesuchend an, als könnte ich irgendetwas tun.«
Er räuspert sich und schluckt, und mir vergeht ganz schnell die Lässigkeit, mit der ich das Spiel »Wessen Kindheit war schlimmer?« gewinnen wollte.
»Nach dem Aufprall, als mein Körper aufhörte, wie der einer Stoffpuppe hin und her geworfen zu werden, öffnete ich die Augen und sah das Blut überall im Wagen. Ich war noch nicht mal sicher, ob es das von mir oder meinen Eltern war … oder das von meinem Bruder.« Seine Augen sind feucht geworden, aber er vergießt keine Träne. »Es war, als sei er zerbrochen, Carlos. Obwohl ich das Gefühl hatte zu sterben, wenn ich mich bewegte, weil der Schmerz so groß war, musste ich ihn retten. Ich musste sie alle retten. Ich hielt den Schnitt in der Seite meines Bruders so lange zusammen, wie ich konnte. Das warme, frische Blut strömte über meine Hände. Die Sanitäter mussten meine Hände mit Gewalt von ihm lösen, weil ich nicht loslassen wollte. Ich konnte ihn nicht sterben lassen. Er war erst sieben, ein Jahr älter als Brandon.«
»Sie sind alle gestorben, bis auf Sie?«
Er nickt. »Ich hatte keine Verwandten, die mich aufnehmen konnten, also wurde ich die nächsten sieben Jahr von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht.« Er sieht mir fest in die Augen. »Eigentlich bin ich aus den meisten geflogen.«
»Weswegen?«
»Wegen allem, was man sich vorstellen kann. Schlägereien, Drogen, Weglaufen … im Grunde hätte ich jemanden mit ein wenig Verständnis gebraucht, der mir den Weg zeigt, aber niemand war gewillt oder hatte die Zeit, sich mit mir abzugeben. Irgendwann war ich achtzehn und wurde auf die Straße gesetzt. Ich habe mich nach Boulder durchgeschlagen, wo es viele Kids wie mich gab. Aber das Leben auf der Straße war hart und dreckig, und ich war allein und hatte kein Geld. Eines Tages bettelte ich um Geld, und dieser Mann verzog missbilligend das Gesicht und sagte: ›Weiß deine Mutter, wo du bist und was du mit deinem Leben machst?‹ In dem Moment dachte ich zum ersten Mal darüber nach. Wenn meine Mutter aus
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