Du oder der Rest der Welt
Hörweite der gringos .
»Hm, ja. Ich hatte einen guten Lehrer. Stimmt’s, Alex?«
Unser Vater wurde ermordet, als ich vier war. Von da an war Alex der älteste Mann im Haus – mit gerade mal sechs Jahren. Er ist nicht viel älter als ich, aber es gab niemand anderen, zu dem ich hätte aufschauen können.
Mein Bruder lehnt sich an die Anrichte und verschränkt die Arme vor der Brust. »Das ist der Deal: Du bist mit Drogen erwischt worden. Es ist mir scheißegal, ob es deine waren oder nicht, du bist derjenige, der damit erwischt wurde. Also find dich damit ab und lebe unter diesem Dach, ohne Mist zu bauen, oder du wirst in eine Jugendvollzugsanstalt verschifft, wo die Wachen jeden deiner Schritte kontrollieren. Wofür entscheidest du dich?«
»Warum kann ich nicht zurück nach Chicago? Wir haben Familie da. Meine alten Freunden sind dort.«
»Auf keinen Fall.« Bevor ich etwas erwidern kann, fährt Alex fort: »Ich möchte nicht, dass du in die Fänge der Latino Blood gerätst. Abgesehen davon wartet Destiny nicht darauf, dass du zu ihr zurückkehrst, wenn es das ist, was du glaubst.«
Destiny und ich haben uns an dem Tag getrennt, als meine Familie mit Sack und Pack nach Mexiko gezogen ist. Sie hat gemeint, eine Fernbeziehung sei sinnlos, wenn wir nicht wüssten, ob wir uns je wiedersähen. Die Wahrheit ist, wenn Alex nicht gewesen wäre, hätten wir Chicago nie verlassen. Und wenn wir Chicago nicht verlassen hätten, wären Destiny und ich zusammengeblieben, und ich wäre nicht an ein Zimmer mit beschissenen gelb gepunkteten Vorhängen gefesselt.
Es scheint, als verlasse mich jeder Mensch, der mir etwas bedeutet, irgendwann. Seit Destiny habe ich niemanden mehr an mich rangelassen. Wenn ich zulasse, dass mir jemand etwas bedeutet, dann verlässt er mich, stößt mich weg oder stirbt. So ist es immer schon gewesen, und so wird es auch bleiben.
»Für den Moment bleibe ich hier, aber eines Tages, und zwar schon bald, werde ich zurück nach Chicago gehen, sei es mit oder ohne deine Hilfe. Zisch ab in dein Appartement und halt dich aus meinem Leben raus.« Ich stoße meinen Bruder zur Seite und stürme an ihm vorbei in mein Zimmer. Dann knalle ich die Tür hinter mir zu. Aber die gelbe Bettdecke erinnert mich daran, dass das hier gar nicht mein Zimmer ist. ¡Mierda!
Ich bin froh, dass Alex mir nicht gefolgt ist. Ich muss allein sein und darüber nachdenken, was Freitag eigentlich passiert ist. Wer hat die Drogen in meinen Spind getan? War es Nick? War es Madison, die zu spät zu Bio kam? Oder war es eine Botschaft der Guerreros , dass sie stets in meiner Nähe sind, wo ich auch hingehe?
Mein Blick fällt auf meine Tasche auf dem Boden. Ich öffne sie und räume meine Kleider ein. Eigentlich werfe ich sie in die Schubladen, ohne mich damit aufzuhalten, sie in den Schrank zu hängen. Ich trage eh keine Klamotten, die aufgehängt werden müssen. Ich nehme meine Zahnbürste und meinen Rasierer aus der Tasche und gehe ins Badezimmer auf der anderen Seite des Flurs. Ich schätze, das Waschbecken mit dem Tritt davor ist Brandons, und beschließe, es mit ihm zu teilen. Das Letzte, was ich brauche, ist es, eine Schublade aufzuziehen und Tampons, Make-up und anderen Frauenkram zu finden.
Ich lege meinen Rasierapparat und meine Zahnbürste in eine leere Schublade – die, in der kein Comicfigurenschaumbad steht. In die Mitte des großen Spiegels, der über den Waschbecken hängt, hat jemand ein kleines Stück Papier geklebt.
Duschzeiten für Wochentage
Montag, Mittwoch, Freitag: Kiara 6:25-6:35
Montag, Mittwoch, Freitag: Carlos 6:40-6:50
Dienstag, Donnerstag: Kiara 6:40-6:50
Dienstag, Donnerstag: Carlos 6:25-6:35
Wann informiere ich Kiara am besten, dass ich mir von niemandem sagen lasse, wie lange ich unter der Dusche zu stehen habe? Ich bin für stundenlange Duschorgien bekannt, wenn mir heiß ist oder ich schwitze wie Sau und ich noch dazu angepisst bin. So wie jetzt gerade.
Als wäre das nicht schlimm genug, bin ich für etwas hochgenommen worden, das ich nicht getan habe, und muss jetzt bei Leuten im Haus wohnen, die Salat aus Spinat machen.
Ich gehe zu meinem Zimmer zurück, werde aber neugierig, als ich sehe, dass Kiaras Zimmertür nur angelehnt ist. Da ich weiß, dass sie noch beim Essen sitzt, gehe ich hinein. Auf ihrem Schreibtisch türmen sich Bücher und lose Blätter. An der Wand über dem Schreibtisch hängt eine Pinnwand, an die Sprüche gepinnt sind, die wie aus einem Selbsthilfebuch
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