Du sollst nicht hassen
Dutzenden von Leuten, die meine Hilfe brauchten. Weil ich einer der Wenigen mit Zugang nach Israel war, brachte ich jedes Wochenende, wenn ich aus dem Krankenhaus heimkehrte, Verschreibungen oder Schuhe, Brillengläser oder notwendige Papiere mit. Ich machte Arzttermine bei Spezialisten und sorgte für Krankentransporte. Selbst die prominenten Familien, die Stammesführer in Gaza – die Hmaid, die Akel, die Abu Zaida –, hatten sich angewöhnt, zu mir nach Hause zu kommen, um medizinische Probleme zu besprechen. Das ist meine Welt, das ist es, was ich vermissen werde, und das ist der Grund, warum mein Abschied aus Gaza nicht für immer sein wird.
Es gab noch viel zu tun, ehe wir Ende Juli abreisen würden. Shatha lernte Tag und Nacht für ihre Abschlussprüfung und tauchte nur zum Essen auf. Sie hoffte, unter die besten zehn ihrer Abschlussklasse zu kommen. Am Tag vor unserer Abreise am 21. Juli erfuhr Shatha bei der offiziellen Bekanntgabe das Ergebnis ihres Oberschulabschlusses: 95,5 Prozent! Dalal war für die Vorbereitungen der Abschlussarbeiten ihrer Architekturklasse an ihren Zeichentisch gefesselt. Ich musste mich um die Reisepapiere für die Kinder kümmern, eine Unterkunft in Toronto finden, die Tickets buchen und irgendwie für einen fünfjährigen Aufenthalt einer sechsköpfigen Familie packen.
Unsere Abreise war aufregend, chaotisch und nervenaufreibend. Unsere ganze Sippe, Freunde und Nachbarn hatten am Tag vorher begonnen, sich zu verabschieden; sie versammelten sich um uns mit Tränen, Umarmungen und den besten Wünschen. Alle sechs waren wir voll gemischter Gefühle – Tränen der Freude wechselten mit Tränen der Trauer, Vorfreude mit Beklommenheit. Die jüngeren Kinder waren noch nie mit dem Flugzeug geflogen; sie hatten Gaza überhaupt noch nicht verlassen, außer um in das Krankenhaus nach Tel Aviv zu kommen, als Shatha dort Patientin war. Die einzigen Flugzeuge, die sie kannten, waren die israelischen F-16, die über unser Haus hinwegflogen. Ich brachte frühzeitig all unsere Koffer nach Eres, fuhr dann nach Hause und holte die Kinder ab. Nachdem wir erst einmal über die Grenze waren – was einen halben Tag dauerte –, wurden wir wie Prominente behandelt. Am Flughafen waren Fernsehkameras, um das Ereignis festzuhalten, und Channel-10-TV-Moderator Shlomi Eldar, der eine so wesentliche Rolle in unserem Leben gespielt hatte, kam, um mich zu interviewen und um auf Wiedersehen zu sagen. Er schenkte mir ein Gefäß mit Sand, damit ich nicht vergaß, woher ich stammte. Unser Lebewohl war ein Wechsel aus Tränen der Freude und der Trauer, aus Vorfreude und Bedauern. Am Flug hafen dauerte es noch drei Stunden, bis alle Formalitäten erledigt waren. Als das Flugzeug schließlich abhob, schauten die Kinder und ich uns an. Wir alle wussten, dass es ein Abenteuer werden würde, und wir dachten daran, wie Aya gesagt hatte: »Ich will fliegen, Papa!«
ACHT
Unser neues Zuhause
Toronto erfüllte all meine Hoffnungen: Es ist ein Ort, an dem meine Kinder Ruhe und Heilung finden können. Natürlich hatte ich mir große Sorgen gemacht, wie die Übersiedlung in ein neues Land und der Wechsel in ein neues Schulsystem, eine neue Sprache und neue Freunde für sie sein würde.
Kurz nachdem wir angekommen waren, hießen uns die Nachbarn in der Straße willkommen, und recht bald fanden wir uns ein. Eine kleine Begebenheit an einem unserer ersten Tage wärmte mir das Herz: Die meisten Gärten in der Nachbarschaft waren eingezäunt. Die Familie nebenan hatte Kinder ungefähr im selben Alter wie meine jüngeren, und das Erste, was sie taten, als wir einzogen, war, ein Stück des Zauns herauszunehmen, damit die Kinder ungehindert hin- und herlaufen konnten. Diese schlichte Handlung gab mir sehr zu denken. Wie prophetisch sie war im Hinblick auf das, was ich mir seit Jahren für Israel und Palästina erträumte. Hier wurde das Niederlegen von Grenzen Wirklichkeit, ein lebendiges Beispiel hier in meinem eigenen neuen Garten.
Dalal und Shatha hatten sich an der Universität von Toronto eingeschrieben und sind dort außerordentlich gute Studentinnen. In Gaza waren sie auf einer reinen Mädchen-Uni gewesen, aber die Universität Toronto ist koedukativ und multikulturell. Hier lernen sie Menschen aus verschiedenen Kulturen kennen, während sie in Gaza vom Rest der Welt abgeschnitten waren. Hier machen sie die Erfahrung, wie es ist, in einer sicheren Umgebung zu sein, wo sie sich nicht ständig Sorgen machen
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