Du sollst nicht lieben: Roman (German Edition)
den Geschäften. Zu den pulsierenden Sambaklängen, die von weiter weg herübergetragen wurden, fing Nicky an, sich aggressiver zwischen den Leuten hindurchzudrängeln.
Sie war schmal und wendig und kam gut voran, aber zugleich zog sie eine Spur von Protest hinter sich her. Ihr Verfolger war groß. Deutlich machte sie ihn etwa zwanzig Köpfe hinter sich aus. Er ließ sie nicht aus den Augen. Immer mehr Leute spannten Schirme auf und hoben sie über den Kopf, während sie sich im Rhythmus der Musik vorwärtswiegten. Niemand dachte daran, sich unterzustellen. Vielmehr schienen alle nach dem langen, heißen Sommer ganz versessen auf eine Abwechslung, darauf, endlich mal maulen und sich beschweren zu können.
Wieder spähte Nicky über die Schulter. Er war noch da, und er setzte die Ellbogen ein, um sich einen Weg zu bahnen. Also drängte auch sie voller Angst weiter. Sie hatte keinen Plan, keine Idee, wie sie dieser absurden Situation entkommen könnte. Vor ihr ging ein grauhaariger, verschwitzter Mann, der in eine Trillerpfeife blies und aussah, als hätte er schon drei Tage Party hinter sich. Sie schob sich an ihn heran, zog ihm den Filzhut vom Hinterkopf und duckte sich unter einen großen gestreiften Regenschirm.
Troy ließ die Zielperson nicht aus den Augen. Er war ganz ruhig, hatte beinahe Spaß. Ohne Regen wäre es angenehmer gewesen, aber wahrscheinlich verhalf der Regen ihm sogar zu einem Vorteil. Wenn die Leute darauf achteten, dass sie nicht zu nass wurden, schauten sie sich nicht so viel um. Bei vielen sah er, wie hektisch sie sich durch die Menge schoben. Er brauchte sich nur Zeit zu lassen. Es eilte nicht. Er spürte das Messer in der Jackentasche. In diesem Gewimmel würde es einfach sein. Mit dem Hut, den sie sich da eben aufgesetzt hatte, hielt sie jedenfalls niemanden zum Narren.
Alles, was nicht unmittelbar mit ihrer Flucht vor diesem Mann zu tun hatte, schob Nicky beiseite. Menschenmassen bedeuteten für sie in dieser Situation nichts Gutes. Einen Hilferuf würde in solchem Gedränge niemand hören. An jeder Ecke und zu beiden Seiten der Umzugsstrecke standen Polizisten – wahrscheinlich waren mehrere tausend Polizisten vor Ort –, aber die waren darauf gepolt, die öffentliche Ordnung und Ruhe zu gewährleisten. Von denen würde keiner den Nerv haben, sich ihre verrückte Geschichte anzuhören. Also drängelte sie sich weiter.
Die Menge verdichtete sich, als durch Absperrungen eine Art Nadelöhr entstand, das dazu diente, Platz für das Sound System eines Lokalradiosenders zu schaffen. Noch etwa dreißig Meter war Nicky von der nächsten Kreuzung entfernt. Vor ihr wurden zwei riesige schwarze Regenschirme geschwenkt. Unter einem davon machte sie eine große Frau mit blondem Haar aus, an die schob sie sich heran. Auf ihrer anderen Seite ging ein Rasta-Typ, der sich eine jamaikanische Flagge übergeworfen hatte. Sie drängelte sich unter seinen Schirm und griff nach der Fahne. Der Rasta drehte sich überrascht um.
»Was machst du, Sista …«
Sie schob ihm eine Zehnpfundnote in die Hand. Er warf einen Blick auf das Geld, zuckte die Achseln und wandte sich ab. Nicky setzte der großen blonden Frau den Filzhut auf, breitete die Flagge hinter sich aus und hastete mit großen Schritten auf die nächste Ecke zu.
Troy beobachtete, wie zwei Schirme sich im Takt der Musik zueinander neigten, und entdeckte unter einem davon einen schwarzen Hut auf blondem Haar. Als die Schirme sich wieder voneinander lösten, behielt er den Hut im Auge. Er brauchte einen Moment, um zu merken, dass die Frau, die ihn trug, nicht Nicky war. Hastig suchte er die Menge ab. Bald kam er an die Ecke, wo der Menschenstrom sich etwas auflockerte und verteilte. Er fluchte leise. Er hatte sie tatsächlich verloren.
Nicky warf sich die Flagge über und entfernte sich, sowie das Gedränge etwas nachließ, schnell von der Ecke. Nach ein paar Schritten riskierte sie einen kurzen Blick zurück. Er war nicht zu sehen. Sie rannte los.
Troy stand an der Ecke und scannte die Menge. Menschenmassen entwickelten einen ganz eigenen Rhythmus. Hier war es trotz Regen eher ruhig, die Leute gingen langsamer, nicht in dem sonst üblichen entschlossenen Stadt-Stechschritt. Sie aber hatte Angst, ihr Rhythmus würde hier nicht passen. Er würde sie sehen. Sein Blick wanderte die Blenheim Crescent hinunter, und da entdeckte er eine schwarz-grüne Flagge, sie sich sehr schnell entfernte. Er hatte sie.
An der Ecke Blenheim
Weitere Kostenlose Bücher