Du sollst nicht lieben: Roman (German Edition)
der Biegung der Schnellstraße. Das Gedränge war hier so dicht, dass sie kaum vorwärtskam. Sie sah die Festwagen, die sich in einem langsamen Zug den Ladbroke Grove hinunterbewegten. Die bunten Hüte der kostümierten Tänzer auf den Ladeflächen hüpften auf und ab wie Bojen auf See. Neben einem eingerüsteten Gebäude blieb sie stehen und schaute sich um, konnte ihren Verfolger aber nirgends entdecken. Dann wanderte ihr Blick nach oben. Auf der ersten Gerüstebene saß ein Schaulustiger und ließ die Beine baumeln. Sie stieß die Sohle eines seiner Doc-Martens-Stiefel an, und er schaute zu ihr herunter. Als sie ihm bittend die Hände entgegenstreckte, beugte er sich vor, packte zu und zog sie hoch. Mit einem Fuß fand sie Halt auf dem Schild, das besagte, sowie jemand auf dem Gerüst herumklettere, werde augenblicklich eine Security-Firma eingreifen. Dort stieß sie sich ab, und als sie das andere Knie auf die Bretter bekam, um sich hochzustemmen, merkte sie, wie ihr das Handy aus der Tasche glitt und nach unten fiel, in die Menge.
Troy sah Nicky an dem Gerüst nach oben klettern und – nicht zu fassen! – ihr Handy herunterfallen. Sofort lief er los und hob es auf.
Nicky lag flach auf den Brettern und konnte sich weder bewegen noch jemanden bitten, ihr das Handy heraufzuwerfen, denn sie hatte gerade Crashman entdeckt. Er stand genau unter ihr und schaute sich suchend um. Hatte er sie schon gesehen? Beim Gedanken an das verlorene Telefon fluchte sie heftig, ausgiebig und stumm. Als sie bald darauf eine orangefarbene Metallleiter hinaufstieg zum zweiten Stock, sah sie ihn in Richtung Schnellstraße davongehen. Die Plane, mit der das Gerüst abgehängt war, hatte einiges vom Regen abbekommen. Sie flatterte im Wind, und Nicky wurde ziemlich nass gespritzt. Konnte es sein, dass er sie nicht gesehen hatte? Sie versuchte, eins der Fenster im zweiten Stock aufzustoßen, doch keines gab nach. Einwerfen konnte sie sie auch nicht. Es waren Lärmschutzfenster mit Doppelverglasung.
Troy stand an den Betonpfeilern, die die hochgebaute Schnellstraße trugen, und sah sich das Gerüst genau an. Auf Höhe des zweiten Stocks erkannte er eine dunkle Gestalt. Game over. Er würde sie erschießen. Die lärmende Menge bot dafür eine unkonventionelle, aber perfekte Tarnung. Er sah sich um und suchte die umliegenden Gebäude systematisch nach Überwachungskameras und Gesichtern an Fenstern ab. Die endlos vielen Menschen hier hatten nur Augen für den Festzug. Sie achteten nicht darauf, was der Typ mit dem Schal machte. Der Winkel war optimal. Er las eine weggeworfene Plastiktüte vom Boden auf und streifte sie über seine Waffe mit dem Schalldämpfer. Jetzt konnte er abdrücken.
Als jemand an das Fenster hinter ihr klopfte, fuhr Nicky zusammen. Jenseits der Scheibe stand eine alte Dame im Morgenrock und fuchtelte mit den Armen, um sie zu verscheuchen. Nicky klopfte, legte bittend die Hände zusammen und flehte die Frau an, sie möge ihr öffnen. Das Gesicht der Alten, die immer heftiger gegen die Scheibe pochte, war nur Zentimeter von ihrem eigenen entfernt.
»Helfen Sie mir!«, schluchzte Nicky.
Die Kugel durchschlug das Glas keine zehn Zentimeter oberhalb von Nickys Kopf und prallte von der Schlafzimmerdecke der alten Dame ab. Beide starrten sie stumm auf das Loch in der Scheibe und die Sprünge, die sich in alle Richtungen gebildet hatten. Erst das Geschrei der Frau rüttelte Nicky auf. Sie duckte sich und versuchte, ans andere Ende des Gerüsts zu robben, da prallte eine weitere Kugel mit hellem Klirren von einer Metallstrebe ab. Nicky stürmte die Leiter zum nächsten Stockwerk hinauf und legte sich dort flach auf die Bretter. Es gab keinen Ort für sie. Sie wusste nicht, wohin, und dort unten stand dieser Mann und zielte auf sie.
Sie sah die Autos auf dem Westway vorbeijagen: normale Leute in ihrem normalen Alltag. Welten lagen zwischen ihnen und ihr, eine unüberwindliche Kluft! Sie hätte schreien mögen vor Verzweiflung. Sie hing so am Leben. Den Mann konnte sie nicht mehr sehen. Sie wusste nicht, wo er war. Stück für Stück schob sie sich über die Planken. Wo die Fensterscheibe der alten Dame ohnehin schon ein Loch hatte, war es vielleicht einfacher, sie einzuschlagen und ins Innere zu gelangen. Sie konnte nur hoffen, dass die Frau keinen Herzschlag erlitt. Sie zog ein Brett zu sich herauf. Es war länger, als sie gedacht hatte, und nur schwer zu bewegen. Um es zu schwenken, war es zu lang, also
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