Du sollst nicht lieben: Roman (German Edition)
Es war tröstlich, auf seiner Umlaufbahn zu bleiben und sich nicht ungeschützt der Wirklichkeit zu stellen.
Ein paar Meter weiter bog er in eine dreieckige, von hohen Wänden begrenzte Ausbuchtung ein, die sich aus den Streben der Fußgängerbrücke unter ihnen ergab. Sie sah die Sprühdosen, die auf dem Boden verstreut lagen, und dann forderte Adam sie auf, sich mit dem Rücken an eine der Wände zu drücken und nach oben zu schauen. Nicky keuchte auf. Deshalb also setzten Graffiti-Sprayer für die Kunst ihr Leben aufs Spiel. Auf der Wand vor ihr prangte die riesige Hauptfigur aus dem Film
Red Riding Hood – Unter dem Wolfsmond,
ihr roter Umhang wehte im Wind, ihr Haar war in einer blonden Punkversion gemalt. Ihre Augen blitzten metallisch. In der Hand hielt sie eine Farbsprühdose wie eine Waffe, und über ihrem Kopf stand: »Angst macht den Wolf größer«. Der enge Raum und die Tatsache, dass man wegen der vorbeifahrenden Züge nicht zurücktreten konnte, machten die Wirkung des Bildes unfassbar stark.
»
Das
nenne ich Kunst«, sagte Adam.
Sie standen etwa in der Mitte der Brücke und hatten einen atemberaubenden Blick über die pulsierende Stadt. Red Riding Hoods blutrotes Cape wurde, so schien es, vom Wind weit über den Fluss getragen.
»Unglaublich.« Mehr brachte Nicky nicht heraus.
»Und das Risiko wert?«
Nicky nickte. Adrenalin jagte durch ihren Körper. So lebendig hatte sie sich seit Jahren nicht gefühlt.
»Darauf kommt’s an im Leben: etwas riskieren, sich den eigenen Ängsten stellen. Wozu sonst das Ganze?«
Nicky lachte. »Angst macht den Wolf …«
Sie vollendeten den Satz gleichzeitig: »… größer.«
Dann wurde seine Miene ernst. Er griff wieder nach ihrer Hand.
»Wir müssen verschwinden. Die Polizei kann jeden Moment hier sein.«
Er führte sie den Weg zurück, den sie gekommen waren, und solange das dauerte, hatte sie das Gefühl, sie würde ihm überallhin folgen. Dieser Tag war eine göttliche Zäsur, eine Auszeit von ihrem wirklichen Leben. Unter den neugierigen Blicken etlicher Wartender kehrten sie auf den Bahnsteig zurück.
»Scheiße, da sind die Bullen!«
Sie folgte seinem Blick und sah zwei Uniformierte durch die Bahnhofshalle kommen. Sie rannten los, über ein Laufband und hinaus auf die Villiers Street. Im Laufen fing Nicky an zu kichern und schließlich zu lachen, sie konnte gar nicht mehr aufhören. Ein unbändiges Glücksgefühl durchströmte sie. Vor dem U-Bahnhof Embankment blieb sie kurz stehen und krümmte sich vor Lachen. Es war so herrlich albern, so durch und durch jung! Erwachsene rannten nicht, sie gingen. Greg konnte schnell gehen, richtig Strecke machen auf seinen kräftigen Beinen, aber er rannte nicht. Adam dagegen hüpfte wahrscheinlich sogar manchmal.
»Du hast wirklich Mumm, Nicky Ayers, das muss ich dir lassen! Ich hätte nie gedacht, dass du mitmachst.«
»Dann kennst du mich eben nicht, Adam Thornton!«
Bei allem Lachen lag in seinem Blick Verwunderung – und Verlangen.
Sie joggten hinüber auf die andere Seite des Flusses, zur South Bank, und nur ganz allmählich fand Nickys Herz zu seinem gewohnten Rhythmus zurück.
Als sie am National Film Theatre vorbeikamen, ging Nicky hinein, um eine Flasche Wasser zu kaufen. Während sie in der Schlange stand, machte sie sich ihre Gefühlslage bewusst: eine Mischung aus Erregung und Schock. Adam hatte sie mit ihrem früheren Selbst zusammengebracht, mit der, die sie vor der Ehe mit Greg und vor Grace’ Tod gewesen war.
Gerade, als sie die Münzen für das Wasser zusammensuchte, wurde sie von hinten so heftig angerempelt, dass sie gegen ihren Vordermann taumelte. Erstaunt drehte sie sich um und erblickte eine kleine Frau mit blondem Stoppelschnitt und einem extrakurzen T-Shirt, das einen straffen braunen Bauch entblößte. Mit geballten Fäusten stand sie da.
»Entschuldigung?«
»Lass Adam in Ruhe.«
Nicky wusste sofort, wen sie vor sich hatte. »Bea.«
»Siehst du, er hat dir von mir erzählt. Wir sind immer noch zusammen, also Hände weg.«
Sie schob die Unterlippe vor – zu einer Schnute, die sie vielleicht für attraktiv hielt. Und sie hatte durchaus etwas Besonderes. Auf ihrer feinen, leicht nach oben geschwungenen Nase saßen ein paar Sommersprossen, und die Haut über den Wangenknochen spannte sich straff und glatt. Sie sah aus wie eine rachsüchtige Elfe.
Nicky spürte den Zorn in sich hochkochen. Unterbuttern ließ sie sich nicht. Und es gefiel ihr überhaupt nicht, verfolgt
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