Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
darunter war beinahe schwarz.
»Ich versteh nicht ganz«, sagte Cynthia besorgt. »Wo ist deine zusätzliche Freizeit geblieben? Ich dachte, du nimmst 24/7, damit du neben der vielen Arbeit noch einen Ausgleich hast? Oder bekomme ich dich bloß deshalb nicht zu Gesicht, weil du viel zu sehr mit Spanisch, Fotografieren … und deinem neuen Freund beschäftigt bist?«
Judy klappte die Speisekarte zu, legte sie auf den Tisch und schüttelte müde den Kopf. »Das ist leider alles auf der Strecke geblieben – einschließlich meiner Beziehung zu Grant. Es hatte einfach keinen Sinn, denn wir haben uns so gut wie nie gesehen – jetzt wo ich einundzwanzig Stunden am Tag arbeite …«
» Einundzwanzig Stunden?« Cynthia war entsetzt. »Aber … was ist passiert? Ich dachte, du schaffst deine Fälle jetzt locker und hast noch Freizeit?«
Judy fuhr sich über die Stirn, und Cynthia sah, dass ihre Falten tiefer geworden waren. Sie sahen aus wie ausgetrocknete Flussbetten.
»Das war einmal, als ich noch eine von wenigen Shiftern im Büro war. Aber seitdem hat sich so einiges verändert.Das ganze Umfeld hat sich verändert. Jetzt, wo niemand mehr schläft, arbeiten alle rund um die Uhr. Das wird einfach von einem erwartet, und da ich nach wie vor Partner werden möchte, darf ich nicht nachlassen. Seit einigen Monaten bietet die Firma einen Concierge- und Reinigungsservice an. Das klingt erst mal toll, aber damit hat man gar keine Ausrede mehr, das Büro zu verlassen. Es gibt sogar Leute, die jeden Vormittag in deine Wohnung gehen, deine Blumen gießen, die Katze füttern und dir frische Kleidung holen. Letzte Woche war ich ganze drei Mal zu Hause. Aber ich kann nicht klagen, meine Pflanzen haben nie besser ausgesehen.« Sie lachte freudlos.
Cynthia starrte ihre Freundin ungläubig an. »Das ist nicht witzig, Judy. Das ist gestört! Du hast das Mittel genommen, um dir mehr Freiraum zu verschaffen, und stattdessen bist du zu seinem Sklaven geworden. Ich habe dich noch nie so erschöpft gesehen. Warum hörst du nicht auf, 24/7 zu nehmen? Dann kannst du deinem Chef sagen, dass du gezwungen bist, nach Hause zu gehen und zu schlafen. So kommst du wenigstens für ein paar Stunden aus dem Büro.«
Judy verzog gereizt das Gesicht. »Nein, Cynthia«, sagte sie, wobei sie jede Silbe einzeln betonte. »Denn dann würde man mich feuern.« Sie schloss die Augen und holte tief Luft. Cynthia hatte das Gefühl, dass ihre Freundin sich zusammenreißen musste, um nicht auszuflippen. Als Judy weitersprach, klang ihre Stimme nicht mehr ganz so schrill. »Es ist nun mal so, dass ich in einer Rund-um-die-Uhr-Kanzlei arbeite, in der nur Rund-um-die-Uhr-Anwälte beschäftigt sind. Ich muss eben rund um die Uhr wach bleiben, damit ich mithalten kann.«
Cynthia beugte sich über den Tisch und legte ihre Hand auf die von Judy. »Du Ärmste«, sagte sie mitfühlend. »Dieses verdammte 24/7. Ich wünschte, es wäre nie erfunden worden.«
Judy zog ihre Hand zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich nicht«, sagte sie und schüttelte energisch den Kopf. »Es hat ja nichts mit 24/7 zu tun, dass ich absurd viel Arbeit habe, und auch nicht, dass meine Kollegen krankhaft ehrgeizig sind. Das war schon immer so. Es kommt eben ganz darauf an, was man persönlich aus dem Shiften macht. Viele Leute schaffen es so, in ihrem Leben mehr Spaß unterzubringen. Und in ein paar Monaten gehöre ich vielleicht auch wieder dazu. Nämlich dann, wenn ich Partner bin. Dann habe ich mehr Entscheidungsfreiheiten und sollte mir den nötigen Freiraum für Freundinnen, das Fotografieren und … andere Dinge verschaffen können.« Ein Schatten glitt über ihr Gesicht, und Cynthia fragte sich, wie viel Hoffnung Judy in ihre kurze Affäre mit Grant, dem Anwalt, gesetzt hatte. Doch Judy gab sich einen Ruck und sah sich suchend nach dem Kellner um. »Sollen wir bestellen?«, fragte sie. »Ich habe seit fünf Uhr früh nichts gegessen und komme fast um vor Hunger.«
Der Kellner, Typ australischer Surfer, baute sich mit einem Bestellblock neben ihnen auf. Cynthia fiel auf, dass er keine Schatten unter den Augen hatte. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass Australier keine großen Fans von 24/7 waren.
»Ich nehme die Spaghetti Bolognese«, sagte Judy.
»Und ich die Ravioli.«
Der Kellner notierte es nickend. Bevor er ging, sah Cynthia, wie sein Blick über die Haut unter ihren Augen huschte. In letzter Zeit schienen das alle so zu machen: jeder schaute, auf welcher
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