Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
wie lange sie blieb, er blieb länger. Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, und es dauerte nicht lange, bis er wieder etwas in seinen Computer tippte. Er war vollkommen konzentriert, hielt einen Moment inne und kaute am Daumennagel, während er wohl nach einem Wort oder einem bestimmten Ausdruck suchte. Dann setzten seine Finger ihren Tanz fort. Resigniert falteteCynthia den Stadtplan zusammen und steckte ihn zurück in die Schreibtischschublade. So kam sie nicht weiter. Sie stand auf und schob ihren Stuhl zurück. Zeit für einen Muntermacher.
Der köstliche Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee empfing sie, als sie die Küche betrat. Zu schade, dass er nicht hielt, was er versprach. Der Sentinel -Kaffee war gefriergetrocknet und schmeckte seltsam verbrannt. Aber er enthielt Koffein, und das war die Hauptsache. Katie stand vor der Maschine und sah zu, wie goldbraune Flüssigkeit durch den Filter lief. Die Kanne war erst zu einem Viertel voll. Cynthia überlegte, ob sie wiederkommen sollte, wenn der Kaffee durchgelaufen war, beschloss aber, dazubleiben. Dann erfuhr sie wenigstens, wer was mit wem hatte: Katies Begabung, solchen Klatsch aufzuspüren, war legendär.
»Morgen, Cynthia, wie geht’s?«, fragte Katie und kam prompt zur Sache. »Was ist das bitte für eine Wahnsinnsgeschichte, an der Marcus arbeitet?«
Cynthia nahm achselzuckend einen Sentinel -Becher vom Kühlschrank. »Vielleicht verfolgt er seinen Coup von gestern weiter: dass Überstunden Gesundheitsprobleme verursachen. Überstunden und Schlafentzug sind ungesund – wer hätte das gedacht! Als Nächstes werden wir unsere Leser atemlos davon unterrichten, dass Zigaretten süchtig machen.«
Aber Katie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, er ist an einer echt großen Sache dran. Es gab heute Morgen eine Redaktionskonferenz deswegen, aber niemand sonst scheint einen Schimmer zu haben, worum es geht. Ich dachte, du wüsstest vielleicht mehr. Ich habe ihn direkt darauf angesprochen, aber er meinte nur: ›Das kannst du in der morgigen Frühausgabe lesen.‹« Sie verdrehte die Augen. »Unglaublich, oder?«
Cynthia nahm einen Karton Milch aus dem Kühlschrankund goss etwas davon in ihren Becher. Verdammt! Was hatte Marcus entdeckt? Sie war hier die investigative Reporterin! Sie war diejenige, deren Geschichten Chefredakteure dazu brachten, Redaktionskonferenzen einzuberufen und die Titelseite freizuschaufeln. Nur dass sie seit dem Abend, an dem Lisa Reed aus dem Wasser gezogen worden war, keine Titelgeschichte mehr gehabt hatte. Rocky hatte ihr im Vertrauen gesagt, sie habe die besten Chancen auf die Chefreporterstelle. Doch gleichzeitig hatte sie zu ihrem Erstaunen erfahren müssen, dass Marcus trotz seiner relativen Unerfahrenheit ein ernsthafter Konkurrent war. Was, wenn er an etwas so Wichtigem dran war, dass er ihr den Rang ablief?
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, worum es geht«, sagte Cynthia, um dann gespielt gleichgültig hinzuzufügen: »Wahrscheinlich alles bloß heiße Luft. Vielleicht hat einer der Herausgeber wegen irgendeines persönlichen Lieblingsthemas Blut geleckt. Weißt du noch, mit welch dramatischer Empörung wir über den Regierungsvorschlag berichtet haben, eine halbe Million Pfund für Verkehrsleitkegel auszugeben?« Es gelang ihr zu glucksen und den Kopf zu schütteln. »Meine Güte, diese lächerliche ›Leid-Kegel‹-Überschrift!« Die Kaffeemaschine ließ gurgelnd die letzten Tropfen durchlaufen. Cynthia griff nach dem Henkel der Kanne, schenkte erst Katie und dann sich selbst ein. Sie nahmen große, dankbare Schlucke, bewegungsgleich wie Synchronschwimmerinnen.
»Vielleicht hast du recht«, sagte Katie. Es klang nicht sehr überzeugt.
»Wie dem auch sei, morgen früh wissen wir mehr. Ich wette, diesmal geht es um Fahrbahnschwellen zur Verkehrsberuhigung!«
Cynthia war schon aufgewacht, bevor der Wecker geklingelt hatte, und nahm auf dem Weg nach unten zwei der mitTeppich ausgelegten Stufen auf einmal. Damien hatte Frühschicht, sodass sie allein in der Wohnung war. Ihr Exemplar des Sentinel steckte zusammengerollt im Briefkasten. Einen Moment lang starrte sie misstrauisch darauf, als wäre es eine Giftschlange. Als sie die Zeitungsrolle herauszog, sah sie als Erstes Marcus’ Gesicht in einem kleinen Infokasten. Der Sentinel hatte ganz gegen die alle Gepflogenheiten ein Autorenfoto abgedruckt. Das versetzte Cynthia einen empfindlichen Schlag. In den sechs Jahren, die sie für die Zeitung arbeitete, war
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