Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
die Ripper-Mordserie also in vier Zeilen im Lokalteil abgehandelt?«
»Hilfe!«, rief Sandra und hob die Hände. »Ich kann doch nichts dafür. Ich zitiere nur.«
Cynthia atmete tief ein und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Die vielen Überstunden und der damit verbundene Schlafmangel machten sie reizbar. Es war nicht fair, das an Sandra auszulassen. »Entschuldige. Ich glaube, ich bin einfach übermüdet.« Sie warf einen Blick auf den Namen unter dem Foto des Mordopfers. Mary Davies: eine Frau,deren Leben auf ein paar gefühlskalte Zeilen reduziert worden war. Aber auch sie war jemandes Tochter und jemandes Freundin gewesen. Eine Frau, die geliebt, gehofft und geträumt hatte. Bis zu ihrem gewaltsamen Tod.
Nun, Mary Davies, dachte Cynthia und griff nach dem Zeitungssauschnitt. Hier sitzt eine Journalistin, die deinen Tod nicht als Nebensache betrachtet. Gratuliere, du bist gerade zum Mittelpunkt meines Hintergrundartikels geworden. Cynthia hatte ein gutes Gefühl, als sie zum Telefon griff. Falls die Polizei neue Spuren in der Sache hatte, konnte durchaus ein eigenständiger Artikel über den Fall Davies dabei rausspringen. Aber erst einmal musste sie ein anständiges Foto beschaffen.
»Hallo, Cynthia.« Nick klang gehetzt. »Wenn du wegen Lisa Reed anrufst, verschwendest du nur deine Zeit. Wir haben uns sämtliche Bänder der Überwachungskameras am Fluss und in Maida Vale angeschaut – ohne Ergebnis.«
»Ehrlich gesagt rufe ich gar nicht ihretwegen an, zumindest nicht direkt. Ich interessiere mich für ein anderes Mordopfer, vom letzten November. Mary Davies.«
Cynthia hörte, wie Nick scharf einatmete. Eine Pause entstand, die so lange anhielt, dass sie schon glaubte, die Verbindung sei unterbrochen worden.
»Was hast du herausgefunden?« Es war seine Stimme, die ihn verriet, Bestürzung schwang darin mit. Sie war auf etwas gestoßen. Auf etwas, von dem Nick nicht wollte, dass sie es erfuhr. Adrenalin schoss durch Cynthias Adern und ließ ihr Herz rasen. Sie zupfte an der Telefonschnur, als wäre sie eine Harfensaite, und dachte nach. Wie konnte sie ihn dazu bringen, die Karten auf den Tisch zu legen?
»Ach, komm schon, Nick«, sagte sie betont gelassen. »Du weißt genau, was ich herausgefunden habe.«
»Mein Gott!«, stöhnte er. »Von wem hast du das? Das ist nämlich …« Er verstummte, wahrscheinlich, um sich wieder zu fangen. »Hör zu, es gibt gute Gründe, warum wir das nicht an die Presse gegeben haben. Das wäre unverantwortlich. Es bringt nichts, den Leuten Angst einzujagen, solange wir uns nicht sicher sind.«
»Aber die Öffentlichkeit hat doch ein Recht darauf, zu erfahren …« Sie hielt inne, in der Hoffnung, dass er den Satz für sie beenden würde.
Doch stattdessen sagte er: »Da gibt es nichts zu erfahren. Noch ist das alles … reine Spekulation. Und solange das so bleibt, bitte ich dich als Freundin und verantwortungsbewusste Journalistin, nicht darüber zu schreiben.«
Cynthia wickelte die Telefonschnur um den Zeigefinger, bis sich das Blut darin staute und die Fingerkuppe weiß wurde. »Gut«, sagte sie schließlich. »Ich mache dir ein Angebot: Ich werde noch nicht darüber berichten. Aber wenn sich die Sache … bewahrheitet, bekomme ich eine Exklusivstory. Kannst du mir in der Zwischenzeit ein Foto von Mary Davies und ein paar Informationen über sie schicken? Ich verspreche dir, dass ich das nur als Hintergrundmaterial benutzen werde … vorerst. Aber wenn es so weit ist, stehe ich ganz oben auf deiner Liste, abgemacht?«
Er atmete hörbar auf. »Abgemacht.«
»Gut.«
»Und Cynthia? Du tust das Richtige.«
Noch lange nachdem Nick aufgelegt hatte, starrte Cynthia auf ihr Telefon, während sich ihre Gedanken überschlugen. Was hatte sie seiner Meinung nach herausgefunden? Wie konnte die Geschichte von einer ermordeten Prostituierten eine Massenpanik auslösen? Es sei denn …
Als die E-Mail samt einem Protokoll und einem Foto im Anhang eintraf, stürzte Cynthia sich sofort darauf, und das Bild von Mary Davies füllte den gesamten Bildschirm: einunscheinbares Gesicht, das deutliche Spuren von Alkoholmissbrauch oder einem harten Leben aufwies. Vermutlich beides. Das Attraktivste an ihr waren die blonden Haare, die ihr in sanften Wellen auf die Schultern fielen. Cynthia konzentrierte sich auf das Protokoll des Gerichtsmediziners.
Achtundzwanzig Jahre alt. Etwa so groß wie Lisa Reed und eine ähnliche Figur. Sie überflog die erbarmungslosen Worte auf der Suche nach
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