Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
Kontrolle zu bringen. Und so wie die Pille die sexuelle Revolution ausgelöst hat, wird dieses Mittel eine Schlafrevolution auslösen.«
Cynthia lächelte gezwungen. »Danke für die Werbeprosa«, sagte sie. »Ich vermute, du hast auch selbst vor, 24/7 zu schlucken, wenn du so sehr von seinen Vorteilen überzeugt bist?«
Er zögerte, und sie musterte ihn forschend, war gespannt, ob er ihren Verdacht bestätigen und zugeben würde, dass er das Medikament bereits einnahm. »Hm, es ist ja gerade erst auf den Markt gekommen«, erwiderte er, ohne sie anzusehen, und nippte an seinem Kaffee, bevor er weitersprach. »Aber ja, ich … Ich ziehe ernsthaft in Erwägung, es zu nehmen. Ich meine, wer hätte denn nicht gern jeden Tag acht Stunden mehr zur Verfügung? Würde man diese Zeit nutzen, um beispielsweise eine Sprache zu lernen, könnte man sie innerhalb eines Jahres fast fließend sprechen.«
Sandra schürzte nachdenklich die Lippen. »Das kann schon sein«, sagte sie. »Aber ohne Nebenwirkungen kann das nicht gehen. Nicht zu schlafen ist widernatürlich. Der Mensch braucht den Schlaf, um sich zu regenerieren. Ohne Schlaf sterben wir.«
Marcus schüttelte den Kopf: mehrere kleine, heftige Bewegungen. »Auch Diabetiker sterben, wenn sie ihr Insulin nicht bekommen. Ist es vielleicht widernatürlich, es ihnen zu geben? Dieses neue Mittel heilt Schlaf, eine Krankheit, die jeden Menschen Tag für Tag in Bewusstlosigkeit stürzt. Wir betrachten ihn nur deshalb nicht als Krankheit, weil wir alle daran leiden.«
»Nein!«, widersprach Cynthia energisch. »Wir betrachten ihn deshalb nicht als Krankheit, weil er weder unangenehm ist noch unser Leben verkürzt.«
»Aber das stimmt doch gar nicht!«, sagte Marcus. »Schlaf nimmt uns ein Drittel unseres Lebens. Ist das etwa kein Zustand, den man heilen sollte?«
Cynthia starrte stirnrunzelnd zur Kaffeetheke hinüber und dachte nach. Dahinter schäumte ein Barista mit lautem Zischen Milch auf. Er warf eine Tasse in die Luft, sodass sie sich einmal um sich selbst drehte, bevor er sie am Henkel auffing und schwungvoll auf eine Untertasse stellte. Auf ihrem Gesicht lag die Andeutung eines Lächelns, bevor sie sich wieder Marcus zuwandte.
»Gut, das ist ein Argument«, gab sie zu. »Aber du übersiehst etwas ganz Entscheidendes: Viele Menschen genießen den Schlaf. Sie wollen ihn gar nicht aufgeben.«
Seine Züge verhärteten sich. »Dann werden sie auf der Strecke bleiben. Die Welt wartet nicht auf sie, während sie herumliegen und gar nichts tun. Würdest du jemanden einstellen, der körperlich nicht in der Lage ist, länger als achtzehn Stunden am Stück zu arbeiten, wenn ein anderer ein dringendes Projekt ohne Pause so lange vorantreibt, bis esabgeschlossen ist? Jemand, der reisen kann, ohne an Jetlag zu leiden, und der die Kosten für teure Geschäftsreisen halbiert, indem er nachts durcharbeitet? Firmen, deren Angestellte 24/7 einnehmen, werden florieren, die anderen werden untergehen. Man muss nur eins und eins zusammenzählen.«
Cynthia rührte heftig in ihrem kalt gewordenen Cappuccino. »Ich weiß nicht, Marcus, das ist doch alles viel Lärm um nichts: ein riesiger Hype, der bald wieder abklingen wird, sobald die Luft raus ist, und dann kommt schon wieder der nächste superheiße Trend.«
Marcus schüttelte den Kopf. »Da täuschst du dich«, sagte er mit Nachdruck. »Dieses Medikament wird bleiben und alles verändern. Die Tage des Schlafens sind gezählt. Am besten, du gewöhnst dich schon mal an die Vorstellung.«
10
Es war schon fast Mitternacht, und Cynthia hatte seit drei Stunden immer dieselbe Frage gestellt. Sie rieb die kalten Hände aneinander und zog ihren Wollschal bis ans Kinn. Sie war schon fast an der U-Bahn-Station Camden, als sie den Verkäufer der Obdachlosenzeitung entdeckte. Er saß im Schneidersitz auf einem Schlafsack, den er auf dem Bürgersteig ausgebreitet hatte.
Er war um die vierzig, hatte einen stumpfen Blick und einen fransigen Bart. Ein erstaunlich gepflegter Hund lag neben ihm. Cynthia zögerte, als sie ihn erreichte. Ach, was soll’s!, dachte sie. Ein »Nein« mehr oder weniger war auch schon egal.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie und beugte sich vor, um dem Hund über den Kopf zu streicheln. »Kannten Sie Mary Davies? Sie hat hier in der Gegend gearbeitet.«
Der Obdachlose starrte sie ausdruckslos an und schwieg. Na gut. Sie würde es morgen Abend erneut versuchen, vielleicht hatte sie da mehr Glück. Sie richtete sich auf und
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