Du sollst nicht sterben
Strähnen hingen heraus, genau wie am Samstag, als er sie bei Marielle Shoes gesehen hatte.
Trotz der seltsam gebogenen Nase hatte sie ein hübsches Gesicht und trug eine lässige, fast schon formlose graue Tunika über einem schwarzen Rollkragenshirt, dazu Jeans und glänzende Turnschuhe. Die musste er ihr abgewöhnen! Frauen in Turnschuhen, das ging gar nicht.
Entweder achtete Jessie Sheldon bei der Arbeit nicht auf ihr Äußeres, oder das Outfit war Absicht. Ihre Alben auf Facebook bewiesen, dass sie mit offenem Haar und hübscher Kleidung durchaus attraktiv war. Manchmal sogar schön. Hinreißend. Eine ungeheuer erotische Frau!
Eigentlich war sie auch kein Mauerblümchen, obwohl sie im Augenblick so aussah, da sie ganz allein im Café hockte. Sie hatte 251 Freunde, wie er auf ihrer Facebook-Seite entdeckt hatte. Und einer von ihnen, Benedict Greene, war sogar ihr Verlobter. Nun gut, sie waren nicht offiziell verlobt, wie sie auf ihrer Seite erklärte. Pst, nicht meinen Eltern verraten!
Sie war eine gute Netzwerkerin. Hielt ihre Freunde über ihre Aktivitäten auf dem Laufenden. Jeder wusste, was sie in drei Stunden, in sechs Stunden, in vierundzwanzig Stunden oder in den kommenden Wochen machen würde. Und genau wie Dee Burchmore twitterte sie. Im Augenblick vor allem über ihre Diät. Jessie spielt mit dem Gedanken, ein KitKat zu essen … Jessie hat dem KitKat widerstanden … Heute ein Pfund abgenommen! … Mist, heute ein Pfund zugelegt! Esse Rest der Woche nur vegetarisch!
Sie war ein braves Mädchen, so hilfsbereit! Sie twitterte weitaus fleißiger als Dee Burchmore. Die letzte Nachricht war erst eine Stunde alt.
Halte Diät ein! Esse heute vegetarisch bei Lydia, meinem Lieblingscafé!
Sie tippte gerade auf ihrem iPhone. Schon wieder beim Twittern?
Er behielt seine Frauen gern im Auge. Heute Morgen war Dee Burchmore im Wellness-Club des Metropole Hotels und gönnte sich ein Thalgo Indoceane Ganzkörperritual. Er überlegte, ob er das auch mal versuchen sollte, besann sich aber eines Besseren. Heute hatte er viel zu tun, eigentlich dürfte er gar nicht hier sein. Aber es tat so gut! Wie konnte er da widerstehen?
Vorhin hatte sie getwittert: Schaue mir heute Mittag noch mal die Schuhe an – hoffentlich sind sie noch da!
Und ob sie das waren! Er hatte gesehen, wie sie sie mit dem iPhone fotografiert und der Verkäuferin gesagt hatte, sie wolle beim Mittagessen darüber nachdenken. Sie hatte darum gebeten, sie bis zwei Uhr zu reservieren, was die Verkäuferin auch zugesagt hatte.
Sie waren schwarz mit Knöchelriemen und dreizehn Zentimeter hohen stahlgrauen Absätzen. Die sie tragen wollte, wenn sie mit ihrem Freund eine Veranstaltung besuchte, auf der er ihre Eltern kennenlernen würde.
Mauerblümchen tippte auf dem Display und hob das Telefon ans Ohr. Kurz darauf ging ein Leuchten über ihr Gesicht. »Hallo, Roz! Ich hab dir gerade ein Foto von den Schuhen geschickt! Schon gesehen? Genau! Was meinst du? Ehrlich? Ganz bestimmt? Okay! Dann nehme ich sie! Ich komme damit heute Abend zu dir, nach dem Squash! Welchen Film sehen wir uns an? Hast du Final Destination da? Super!«
Er lächelte. Sie mochte Horrorfilme. Dann würde sie die kleine Show, die er für sie geplant hatte, vielleicht sogar genießen. Auch wenn dies nicht seine Absicht war.
»Nein, der Wagen ist jetzt repariert. Ich bringe was zu essen mit. Ich sage ihm, er soll uns die Algen nicht berechnen, die hat er letzte Woche vergessen«, fuhr sie fort. »Gut, mit Sojasoße. Ich sorge dafür, dass er uns eine Extraportion einpackt.«
Sein Handy klingelte. Er schaut aufs Display. Beruflich. Er drückte den roten Knopf, worauf die Mailbox anging.
Dann schaute er auf den Argus, den er soeben gekauft hatte. Die Schlagzeile lautete: POLIZEI VERSTÄRKT ÜBERWACHUNG NACH DRITTER VERGEWALTIGUNG IN DER STADT!
Er runzelte die Stirn und begann zu lesen. Der dritte Angriff hatte am Wochenende in der Geisterbahn auf dem Pier stattgefunden. Man spekulierte fieberhaft, ob der sogenannte Schuh-Dieb, der 1997/98 vier, wenn nicht gar fünf Vergewaltigungen begangen hatte, zurückgekehrt war. Detective Superintendent Roy Grace, der leitende Ermittler, hatte erklärt, für derartige Spekulationen sei es noch zu früh. Sie verfolgten verschiedene Spuren, und er versicherte, dass die Sussex Police alle verfügbaren Ressourcen eingesetzt habe. Die Sicherheit der Frauen genieße höchste Priorität.
Der nächste Absatz traf ihn wie ein Schlag.
In einem
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