Du stirbst zuerst
Leuten erzählt habe, die mich beobachten?«
»Ja, aber du hast mir nicht verraten, wer sie sind. Hast du die Leute hier gemeint? Die Mitarbeiter?«
Bisher habe ich ihr noch nie die ganze Wahrheit anvertraut. Wird sie mir überhaupt glauben? Oder wird sie mich für verrückt halten? Ich weiß nicht, ob ich es wagen kann, ihr alles zu erzählen. »Die Einzelheiten kenne ich nicht, weil ich eine Gedächtnislücke habe, aber vor ungefähr zwei Wochen haben sie etwas unternommen. Das glaube ich jedenfalls, weil mich irgendetwas zum Handeln getrieben hat. Ich bin geflohen, ich bin weggelaufen, nicht mehr zur Arbeit gegangen und habe mich … irgendwo versteckt. Doktor Vanek sagt, die Polizei hat mich unter einer Brücke aufgegriffen. Vorher bin ich aber weggerannt und anscheinend aus einem Fenster gestürzt. So haben sie mich jedenfalls erwischt.«
»Du bist gestürzt?« Sie legt mir eine Hand auf den Kopf und tastet mich nach Beulen ab. »Alles in Ordnung? Hast du deshalb die Erinnerung verloren?«
»Ich glaube schon. Es könnte allerdings …« Ebenso gut könnte die Kernspintomografie auf das Implantat eingewirkt haben, aber das spreche ich nicht aus. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie mich so ansähe, wie die Ärzte es tun. Als wäre ich ein hoffnungsloser Irrer. »Hör mal, es ist nicht so wichtig, wie sie mich geschnappt haben. Wichtig ist nur, dass ich hier raus muss. Es ist nicht wie im letzten Jahr, als ich zwei Wochen hier verbracht habe, um mich von den Angstanfällen zu erholen. Inzwischen geht es um etwas anderes. Sie haben sich eine völlig falsche Diagnose einfallen lassen, damit sie mich unendlich lange festhalten können. Angeblich bin ich schizophren.«
Sie schüttelt den Kopf. »Multiple Persönlichkeiten?«
»Nein, das ist etwas anderes. Schizophrenie heißt, dass ich halluziniere oder so. Das ist wie ein amtlicher Stempel, der jedes meiner Worte für ungültig erklärt. Solange behauptet wird, ich sei verrückt, können sie mich hier festhalten, beobachten und mit mir anstellen, was sie wollen. Ich glaube, sie machen sogar Experimente mit mir.«
Lucy stößt ein böses Knurren aus. »Diese Drecksäcke. Warum haben sie gerade dich ausgesucht?«
Schweigend starre ich sie an. Wütend, besorgt und voller Vertrauen starrt sie zurück. Schließlich hole ich tief Luft. Ich kann ihr nicht alles erzählen, aber immerhin einiges.
»Sie glauben, ich hätte etwas mit dem Wellnesskiller zu tun.«
»Was?« Sie schreit beinahe, und ich beruhige sie rasch.
»Leise!«, zische ich durch die Zähne.
»Halten sie dich für den Killer?«
»Doktor Vanek sagt, das sei wohl so, aber bisher hat mir noch niemand Fragen gestellt. Was weißt du eigentlich über den Fall?«
»Nicht viel«, erklärt sie. »Nur was ich so im Restaurant aufschnappe. Warum glauben sie denn, du hättest etwas damit zu tun?«
»Weil die Opfer alle …« Die Gesichtslosen kann ich nicht erwähnen, von denen weiß sie nichts. »Sie gehörten alle zu den Kindern der Erde.«
»Milos Cernys Sekte?«
Ich nicke. Milos Cerny war der Mann, der meine Mutter getötet hat. »Du musst für mich nachforschen«, sage ich. »Find möglichst alles heraus – wen der Killer getötet hat, wann und wie es geschehen ist und was die Kinder der Erde damit zu tun haben. Ich versuche unterdessen, hier herauszukommen, aber ich will nicht, dass du mit hineingezogen wirst. Ich will ihnen keinen Vorwand geben, auch auf dich loszugehen.«
»Ich werde mir alle Mühe geben«, verspricht sie. »Aber … wer sind sie überhaupt?«
»Das kann ich dir im Moment noch nicht sagen«, erwidere ich. »Bitte vertrau mir, und ich erzähle dir so bald wie möglich alles. Du musst jetzt gehen.«
Plötzlich ist der Gesichtsausdruck da – nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte, nicht ganz so krass, aber er ist da. Sie zweifelt an mir. Heiße Tränen brennen mir in den Augen. »Bitte, Lucy, bitte. Ich bin nicht verrückt.«
Sie schürzt die Lippen, denkt nach und nickt schließlich. »Ich glaube dir.«
»Danke. Und jetzt geh und pass gut auf dich auf.«
Sie beugt sich vor, küsst mich und drückt meine Hand. Auch ihr stehen die Tränen in den Augen, als sie geht. Die anderen Patienten beobachten mich, einige mit raschen, scharfen und unsteten Blicken, andere starren mit schlaffen Wangen herüber und nehmen mich anscheinend kaum wahr. Von wem habe ich mehr zu befürchten?
Ich esse noch einen Löffel Hafergrütze, die inzwischen kalt geworden ist. Unauffällig
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