Du stirbst zuerst
Beinen und huste.
»Nein!«
Doktor Little lächelt.
»Sehr gut«, sagt er. »Ich hoffe, Sie arbeiten in Zukunft mit uns zusammen. Andernfalls müssen Sie mit Maßnahmen wie diesen rechnen, falls wir es für nötig halten.« Wieder lächelt er, und dann gehen alle hinaus. »Das Sedativum wirkt rasch. Schlafen Sie gut, und morgen früh sehen wir uns wieder.«
Sie schalten die Lampen aus. Im schwachen Licht, das vom Flur hereinscheint, erkenne ich nur noch einige verschwommene Umrisse. Ich sitze keuchend im Bett und überlege, was ich tun soll, muss aber einsehen, dass ich am Ende bin, sie haben mich körperlich und geistig in die Enge getrieben. Schon spüre ich, wie mir der Kopf schwer wird. Das Schlafmittel wirkt bereits. Ich schreie. Es wird dunkel um mich.
Auf dem Flur höre ich ein Schlurfen und ein fettes, nasses Klatschen wie von einem Wischmopp. Ein schleifendes und schmatzendes Geräusch. Ich kämpfe gegen die Müdigkeit an und hebe den Kopf, um zur Tür zu blicken. Allmählich schält sich ein Schatten heraus, der eine feste Form bekommt – glatte weiße Haut, auf der das Licht vom anderen Ende des Flurs schimmert. An der Tür macht es kehrt. Die Haut ist durchsichtig und spannt sich über grotesken Muskeln – ein riesiger weißer Wurm, eine Made oder Larve, einen halben Meter dick und lang gestreckt, der hintere Teil liegt noch draußen im Flur. Der Kopf besteht vor allem aus einem Schlund voller Zähne und Schleim, eigentlich ist es eher ein Loch als ein Maul. Es richtet sich auf, als wittere es in der Luft. Ich halte den Atem an und harre stocksteif und hilflos in den Gurten aus. Kommt es ganz herein, oder kriecht es weiter? Inzwischen erkenne ich vor Benommenheit kaum noch etwas. Das Wesen kriecht ins Zimmer, das Schlängeln ist grässlich anzusehen. Mit aller Kraft kämpfe ich gegen den Schlaf. Schreie ich wieder? Ich glaube, dazu fehlt mir die Kraft. Auch der Kehlkopf ist müde und gehorcht mir nicht mehr.
Das Wesen nähert sich. Es summt in mir, und mein Kopf verliert die feste Form. Tränen schießen mir in die brennenden Augen. Es wird schwarz um mich. Immer näher schiebt sich das Wesen, die glatte Haut rutscht über den Boden.
Dann setzt auch das Gehör aus.
Dunkelheit. Stille. Alle Wahrnehmungen sind ausgeschaltet und durch ein vertieftes Fühlen und Wissen ersetzt worden. Ächzend dreht sich die Erde, Energien branden auf und strömen dahin. Ich bin zugleich frei und gefangen. Ich bin ein mächtiges altes Wesen, das außerhalb der Zeit existiert. Es gibt jedoch kein Ziel, auf das ich zugehen, keinen Ort, an dem ich mich verstecken könnte.
Als Erstes setzt das Gehör wieder ein. Ich nehme ein dumpfes, fernes Brummen wahr. Ich stürze mich hinein wie in einen Ozean, als würde ich zum ersten Mal erleben, was Hören heißt. Begierig erforsche ich jeden neuen Ton, doch allzu bald werden die Geräusche schmerzhaft laut – ein schrilles Kreischen, ein lautes Knacken, das dumpfe Heulen und Blöken verschreckter wilder Tiere. Dann erwachen die körperlichen Empfindungen wie Hitze, Kälte und Druck. Es sticht und zwickt, es kratzt und juckt so heftig, dass es mich schier zerreißt. Was tun sie mit mir? Noch bevor ich die Frage richtig formulieren kann, brechen Licht und viel zu grelle Farben auf mich herein. Ich gewinne den Gesichtssinn zurück und werde sofort wieder geblendet. Vor Schmerzen muss ich blinzeln, und dann wird mir klar, dass ich etwas habe, womit ich blinzeln kann. Wo bin ich? Was tue ich hier?
Ich fühle mich wie ein zusammengequetschter Ball. Die Welt beißt mich mit scharfen Zähnen. Ich bin …
Ich bin in einer Höhle. In einem tiefen, dunklen Loch. Als ich mich herausarbeite, betrete ich eine Welt voll … voll leerer Häuser. Lange Straßen ohne Leben, öde Gebäude, in denen niemand wohnt. Ich bemühe mich, die Augen zu öffnen, und mache mich auf einen neuen Schock gefasst. Hinter den Tränen schält sich allmählich eine kahle graue Wand heraus. Da stimmt etwas nicht. Sie sollte doch aus Holz bestehen. Ich befinde mich in einem Zimmer, man hat mich auf ein Bett geschnallt. Ich befinde mich in einem … wie heißt das Wort? In einer Klinik. Ich bin im Krankenhaus.
Mein Name ist Michael Shipman. Ich liege in der Powell-Klinik für Psychiatrie, bin erschöpft und habe Schmerzen.
Doktor Little – endlich fällt mir der Name ein – hat mir ein Medikament gegeben. Sero… egal. Serotonin? Irgendjemand hat jedenfalls diesen Begriff benutzt. Dann stürmen meine eigenen
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