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Du stirbst zuerst

Du stirbst zuerst

Titel: Du stirbst zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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Mitte fünfzig, hat massige Arme und graue Haare mit Dauerwelle.
    »Wo ist Shauna?«
    Der Wächter hält mich fest. »Wer ist das?«
    »Die Nachtschwester«, sage ich. »Sie ist jede Nacht hier.« Verwirrt starre ich die Frau an. »Wer sind Sie?«
    Die Schwester erwidert meinen Blick, spricht aber weiter ins Telefon. »Er wirkt total desorientiert, Doktor. Ja, das machen wir. In Ordnung, bis gleich.« Sie beendet das Gespräch.
    »Wo ist Shauna?« Ich habe Angst, ein widerliches, kreiselndes Gefühl im Bauch, als würde ich gerade durch den Fußboden ins Nichts stürzen. »Warum sind hier so viele Fotos? Was ist damit?«
    »Ruhig, Michael«, sagt der Wachmann. »Wir bringen Sie wieder in Ihr Zimmer, ja?«
    »Vielleicht ist Shauna das Mädchen, über das er immer redet«, überlegt die Schwester.
    »Shauna ist die Nachtschwester!«, rufe ich. »Was haben Sie mit ihr gemacht?«
    Die Schwester wechselt einen besorgten Blick mit dem Wachmann. »Ich bin die Nachtschwester, Michael. Ich bin Sharon. Erinnern Sie sich nicht an mich?«
    Ich starre sie an und erinnere mich an ein Gesicht im Dunklen. An Pfirsiche, die nicht nach Pfirsich schmecken. »Was ist hier los?«
    »Bringen wir ihn zurück in sein Zimmer.«
    Inzwischen sind weitere Wachleute gekommen und schnallen mich mit dicken Ledergurten sitzend im Bett fest. Genau wie zuvor missachten sie alle meine Hilfe­rufe und Fragen. Sie nehmen mich überhaupt nicht wahr und reden über mich, als wäre ich nicht anwesend.
    »Wie ist er eigentlich hinausgekommen?«
    »Er ist mit der Faust auf mich losgegangen, ich musste ihn betäuben.«
    »Wir hätten ihm die Gurte gar nicht erst abnehmen dürfen.«
    »Verrat ihnen kein Wort!«
    Ich hebe den Kopf und blicke zur Tür, wo aber nur Wachleute und Pfleger herumstehen. Wie eine grässliche Diashow laufen mir die Fotos aus dem Büro durch den Kopf. Die nervösen Spekulationen der Wachleute könnten fast meine eigenen sein:
    Was ist, wenn ich wirklich ein Killer bin?
    Irgendjemand bringt Leute um, die ich hasse, und verwandelt sie in die Bilder, von denen ich besessen bin. Ich zittere am ganzen Leib. Ein Schaudern, als wäre mir kalt, dabei schwitze ich.
    Was habe ich getan, bevor ich aufgegriffen wurde?
    Im Krankenhaus habe ich einen Mann in den Arm gebissen, weil ich fliehen wollte. Ich habe ihn buchstäblich mit den Zähnen zerfleischt. Welcher Mensch lässt sich zu so etwas hinreißen? Und wenn ich bereit bin, so etwas zu tun, wie viel weiter gehe ich dann noch? Ist es denkbar, dass ich wild um mich schlage und Menschen töte, weil die Anderen mich in die Ecke drängen? Kann ich so viele getötet haben? Es scheint ausgeschlossen, denn nachdem ich einen oder zwei getötet hätte, wären sie mit noch mehr Leuten und verstärkten Kräften auf mich losgegangen.
    Es sei denn, sie hatten es gar nicht auf mich abgesehen. Vielleicht bin ich es, der es auf sie abgesehen hat.
    Kelly sagte, es seien zehn Opfer, vielleicht sogar mehr. Niemand tötet zehn Menschen in Selbstverteidigung – schon gar nicht so grausam und auf so unverwechselbare, besondere Art und Weise. Das Verstümmeln der Gesichter hat nichts mit Notwehr zu tun. Diese Menschen wurden hingerichtet oder bestraft. Vielleicht war ich es irgendwann leid, immer nur wegzulaufen, und bin zum Angriff übergegangen.
    Wie viele habe ich getötet?
    Klick-klick-klick.
    »Wie sind Sie durch die Pforte gekommen?« Der Wachmann steht an meinem Bett, andere Wächter und Pfleger tummeln sich im Hintergrund, sowohl in meinem Zimmer als auch draußen auf dem Flur. Sie reden, suchen und eilen umher. Es ist mitten in der Nacht, aber ich habe in ein Wespennest gestochen.
    Ich erwidere den Blick des Wächters. »Die Pforte stand offen.«
    »Hat Sie jemand hinausgelassen? War es … wie hieß sie noch? Shauna? Hat sie Ihnen zur Flucht verholfen?«
    »Niemand hat mir geholfen.«
    »Wer ist Shauna?«
    »Das wüsste ich auch gern«, entgegne ich. »Wie viele Nachtschwestern gibt es hier?«
    Der Wachmann runzelt die Stirn. »Wir überprüfen gerade die Aufzeichnungen der Überwachungskameras. Falls Ihnen eine Frau geholfen hat, werden wir sie finden. Was hatten Sie eigentlich in Doktor Littles Büro zu suchen?«
    »Ich habe mich versteckt.«
    »Im Büro Ihres eigenen Arztes«, erwidert er verächtlich, »wo alle Ihre Akten und wichtige Informationen liegen. Und Sie sind rein zufällig dort hineingestolpert.«
    »Hören Sie«, sage ich, »ich weiß nicht, wer auf der Seite der Anderen steht und wer nicht.

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