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Du stirbst zuerst

Du stirbst zuerst

Titel: Du stirbst zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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will es hören.«
    »Nein.«
    »Soll ich lieber Doktor Little rufen? Oder Doktor Jones – für sie täten Sie es doch sicher.«
    »Na schön.« Klick-klick-klick. Wenn ich es absichtlich versuche, kann ich nicht ganz so schnell klappern. Merkt er den Unterschied?
    Er denkt schweigend nach.
    »Das ist nichts weiter«, sage ich. »Es liegt nicht am Medikament.«
    »Spätdyskinesie ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen«, widerspricht er. »Wenn sie zu weit geht, ist sie möglicherweise irreversibel, selbst wenn die Mittel abgesetzt werden.«
    »Warum ist Ihnen das auf einmal so wichtig?«
    »Sie sind … ein interessantes Rätsel, und ich möchte nicht, dass Sie zugrunde gehen, bevor es gelöst ist.«
    »Sie sind liebevoll wie immer.«
    Er steht auf. »Ich meine es ernst, Michael. Sie müssen zu den verschütteten Erinnerungen durchbrechen. Das ist für den Fall möglicherweise ebenso wichtig wie für Ihre geistige Gesundheit.«
    »Aber der Fall kommt an erster Stelle.«
    »Mir egal, was an erster Stelle kommt.« Er blickt auf die Uhr. »Aber erinnern Sie sich!« Damit wendet er sich um und geht.
    Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen und suche den Patienten, den ich für eine Halluzination gehalten habe. Ich beobachte ihn und zwinge ihn in Gedanken, durch eine Wand, einen Pfleger oder einen ande­ren Patienten hindurchzugehen. Er bleibt stumpf sitzen und starrt den Fernseher an.
    Warum ist Vanek auf einmal die verlorene Zeit so wichtig?
    Was weiß er, wovon ich keine Ahnung habe?
    Die Zuckungen werden schlimmer.
    Ich habe gelernt, das Zähneklappern zu beherrschen, indem ich eine Socke zerreiße und mir den zusammengerollten Stoff in den Mund stopfe. Wenn er zwischen den Zähnen klemmt, hören die Bewegungen zwar nicht auf, aber das Geräusch wird unterdrückt, und wenn ich in Gegenwart der Pfleger vorsichtig bin, bemerkt niemand etwas. Der Arm ist schwerer zu kontrollieren. Ich stecke die Hand in die Hosentasche und halte mich am Stoff fest. Dadurch wirkt der Arm steif, aber das ist immer noch besser, als wenn er wild schlenkert. Jetzt ist es der linke Arm, und da ich Rechtshänder bin, kann ich herumlaufen und alles tun, was ich auch sonst getan habe.
    Die Kopfbewegungen sind am schlimmsten. Ich nicke fast ständig, doch auch das kann ich mindestens teilweise überspielen, indem ich die Halsmuskeln so fest wie möglich anspanne. Wenn niemand zusieht, halte ich den Kopf mit der rechten Hand fest, presse ihn an eine Wand oder lümmele mich auf einen Stuhl und drücke den Hinterkopf gegen die Lehne. Das funktioniert ganz gut, bisher hat noch niemand etwas bemerkt.
    Sie halten mich wohl für verrückt, weil ich ständig die Hand in der Hosentasche habe, auf Stühlen tief hinunterrutsche und mich in Ecken drücke, aber das ist mir egal. Sie halten mich sowieso für verrückt. Haupt­sache, sie nehmen mir die Medikamente nicht weg.
    Doktor Vaneks Warnung, die Dyskinesie könne nach einer Weile zum Dauerzustand werden, macht mir Sorgen, aber die Mittel sind das Risiko wert. Ich bin geheilt, buchstäblich geheilt von allen meinen Halluzi­nationen. Ich habe weder Maden noch Gesichtslose ge­sehen, keine seltsamen Geräusche und Phantomschritte mehr gehört. Alle Ängste, mit denen ich jahrelang gelebt habe, sind völlig verflogen. Albträume, aus denen ich nie mehr aufzuwachen fürchtete. Das weiß ich inzwischen, und dieses Wissen will ich nie mehr ver­lieren.
    Ich kann gar nicht erklären, wie es ist … man wacht eines Morgens auf und fühlt sich nicht mehr psychotisch. Das Summen in den Ohren hört auf, die Stimmen im Kopf verstummen, die tanzenden Schatten am Rand des Gesichtsfelds verschwinden. Einige sekundäre Symp­tome sind natürlich noch da – man kann nicht einfach eine lebenslange Phobie vor Handys abschütteln, nur weil die irreale Ursache der Phobie endlich aufgedeckt ist. Hin und wieder fühle ich mich immer noch verfolgt und habe Angst oder mache mir Sorgen, aus der Dunkelheit könne mich irgendetwas – was auch immer – anspringen, sobald ich in meiner Wachsamkeit nachlasse. Mir ist so lange nicht bewusst geworden, wie groß die Ängste tatsächlich waren. Ständig habe ich darüber nachgedacht, wegzulaufen, mich zu verstecken und mir auszumalen, auf wie viele verschiedene Weisen mich die Monster umbringen könnten. Nachdem ich das alles abgelegt habe, fühle ich mich, als könne ich endlich wieder durchatmen. Das schmutzige Fenster, durch das ich geblickt habe, ist endlich sauber, und

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