Du stirbst zuerst
missverstanden?«
»Hören Sie«, sage ich und werfe ihm einen bitterbösen Blick zu, »Lucy war einer der wenigen Menschen auf der ganzen Welt, die ich wirklich geliebt habe. Sie ist fort, und ich habe wohl ein Recht darauf, traurig zu sein. Dieser Verlust ist der Preis, den ich zahlen muss, wenn ich eine ganze Horde von Monstern und Aliens und Gott weiß was loswerden will. Sie sind mir im Kopf umhergekrochen, und ich bin fast ein Jahr lang vor einer weltumspannenden Verschwörung allmächtiger Gesichtsloser weggelaufen. Nun muss ich nicht länger rennen, weil ich vor nichts mehr fliehen muss. Keine Gesichtslosen, keine Riesenmaden, keine Phantomgeräusche im Flur. Verdammt, ich hielt es nicht mal vor dem Fernseher aus, Doktor Vanek! Ich traute mich kaum, mit dem Auto fahren, weil ich Angst hatte, das Radio könnte meine Gedanken lesen. Lucy zu verlieren, bricht mir das Herz, aber wenn das der Preis ist, wenn ich dafür ein richtiges Leben, einen richtigen Job und eines Tages vielleicht sogar eine richtige Freundin bekomme, wie können Sie mir dann etwas vorwerfen?« Ich lehne mich zurück und kehre ihm nickend den Rücken. Als er zu einer Erwiderung ansetzt, fahre ich fort, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. »Wenn Sie nur ein halb so guter Psychiater wären wie Linda Jones, dann hätten wir diesen Punkt vielleicht schon vor Jahren erreicht, und das hätte mir eine Menge Ärger erspart.«
Schwer atmend starre ich ihn an und drohe ihm mit meinem Blick, dass er ja nicht widersprechen soll. Ich bin so müde – ausgelaugt und voller Scharten und Rostlöcher wie ein altes Auto auf dem Schrottplatz. Das Licht blendet mich, die Geräusche tun mir in den Ohren weh, bei jeder Bewegung brennt es in den Muskeln. Das ist die Milchsäure, die sich durch Übermüdung und Überanstrengung bildet. Meine Seroqueldosis kann kaum noch weiter erhöht werden, weil der Körper nicht mehr mitspielt.
Doktor Vanek beobachtet mich gelassen und schweigt, bis ich mich schließlich erschöpft wieder abwende.
»Sie kommen ins Gefängnis«, sagt er. »Sobald es Ihnen besser geht. Sie werden nur geheilt, damit man Sie anklagen kann.«
Ich hefte den Blick auf den Boden.
»Jedes Wort, das Sie sagen, überzeugt sie, dass Sie ein Killer sind. Sie passen hervorragend in das Profil: ein zorniger junger Mann, der keine Freunde und keine nennenswerte Familie hat, unter Verfolgungswahn leidend und davon überzeugt, die Quelle aller Schwierigkeiten sei eine Bande namenloser, gesichtsloser Männer, die jede seiner Bewegungen überwacht. Wer sind die Opfer, Michael? Nachbarn, die Sie geärgert haben? Lehrer, die Ihnen im Weg waren? Wie leicht es Ihnen gefallen sein muss, sich einzureden, diese Leute seien ein Teil des Plans gewesen, Sie zu vernichten. Wie einfach, ihnen die Menschlichkeit zu nehmen, sie zu töten und ihnen die Gesichter zu zerschneiden, um der Welt zu zeigen, was sie wirklich sind.«
»Das ist nicht wahr.«
»Ich weiß, dass es nicht wahr ist!«, ruft er. Ich erschrecke über den Ausbruch. »Aber was wollen Sie tun, um es zu beweisen? Wo waren Sie, als Sie die Erinnerung verloren haben?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie müssen sich erinnern! Sie müssen ein Alibi liefern, sonst sperrt man Sie für den Rest Ihres Lebens ein. Oder man tötet Sie einfach. In diesem Staat gilt die Todesstrafe.«
»Ich erinnere mich an nichts«, beharre ich. »Höchstens an Bruchstücke, die vielleicht nicht einmal real sind. Ich war zu Hause, ich war bei der Arbeit, ich war … an einem leeren Ort.«
»Leer?«
»Häuser, in denen niemand lebte. Eine ganze Stadt mit leeren Häusern.«
Er denkt nach. »Erzählen Sie mir mehr darüber.«
»Ich weiß doch nicht mehr!« Die Leute drehen sich schon nach uns um. »Ich weiß nur, dass ich im Krankenhaus aufgewacht bin. Alles davor ist verschwommen, ein großes schwarzes Loch im Kopf. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass es am Kernspin liegt. Damit sind sie eingedrungen und haben mir den ganzen Kopf durcheinandergebracht …«
»Michael, wer ist eingedrungen, wenn die Gesichtslosen eine Wahnvorstellung sind?«
»Ich …« Ich starre ihn an und weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt keine Gesichtslosen, keinen Geheimplan, niemand kontrolliert meine Gedanken durch die Handys in der Umgebung. Wenn die Elektronik mir nichts tut, ist auch der Kernspin sicher. Ich kann meine Probleme nicht mehr mit einer Verschwörung erklären.
»Michael?«
»Was ist, wenn Sie recht haben?«, flüstere ich.
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