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Du stirbst zuerst

Du stirbst zuerst

Titel: Du stirbst zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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der Anblick auf der anderen Seite ist wundervoll.
    Wenn ich nur den Kopf lange genug ruhig halten könnte, um hindurchzusehen.
    Die Mahlzeiten sind das Schwierigste. Ich kann den Kopf nicht festhalten, weil ich die Hand zum Essen brauche, und ich kann das Zähneklappern nicht dämpfen, weil ich mit dem Stoffknäuel im Mund nicht kauen kann. Ich muss es herausnehmen, die Zähne zusammenbeißen und den Hals anspannen, bis ich das Gefühl bekomme, mir werde gleich der Kopf zerplatzen. Einen Bissen nach dem anderen. Einen Happen zum Mund führen, den Mund öffnen, innehalten und versuchen, das Essen in den Mund zu bekommen, ohne das Essen, die Gabel und das ganze Tablett quer durch den ganzen Raum zu schleudern. Langsam und behutsam kauen. Den nächsten Bissen nehmen und wieder von vorn beginnen. Jede Mahlzeit dauert eine halbe Ewigkeit, und wenn ich aufgegessen habe, verstecke ich mich in meinem Zimmer und liege erschöpft auf dem Bett, wo ich zittere und zucke, bis mir das Gehirn im Schädel klappert.
    Heute gibt es Hackbraten mit Stampfkartoffeln. Leicht zu zerteilen, leicht zu schlucken. Ich muss nicht einmal richtig kauen, obwohl ich das dank der Zähne, die klappern wie bei einem Aufziehaffen, mühelos könnte. Als ich halb aufgegessen habe, bemerke ich, dass mich Doktor Little von der anderen Seite des Raums aus beobachtet. Ich spanne den Hals noch stärker an, bis das Gesicht rot anläuft, und bemühe mich, ganz ruhig zu wirken. Die Gabel heben, den Mund öffnen, kauen. Doktor Little kommt herüber, und mir sinkt das Herz. Bitte achte nicht auf mich.
    »Das ist erstaunlich«, sagt er.
    Ich lächle, bewege die Lippen und befehle dem Unterkiefer, ruhig zu bleiben. »Danke.« Das Sprechen fällt mir ungeheuer schwer. »Was … ist … erstaunlich?«
    »Ihre Selbstbeherrschung«, erklärt er. »Sie verbergen es so gut, dass ich es nicht bemerkt hätte, wenn Linda mich in ihrem letzten Bericht nicht darauf aufmerksam gemacht hätte.«
    Langsam und zögernd antworte ich. »Ich habe … nichts Falsches getan.« Ich lege die Gabel weg und stemme die Hand unter das Kinn. Hoffentlich wirkt es natürlich.
    »Oh«, beruhigt er mich sofort, »nein, natürlich haben Sie nichts Falsches getan. Wir wollen Ihnen ja helfen und Sie nicht bestrafen. Aber Ihre Spätdyskinesie ist wieder da. Die unwillkürlichen Zuckungen, über die wir uns schon einmal unterhalten haben. Sie verbergen es geschickt, aber das ist nicht gut für Sie. Wir müssen das Medikament wechseln.«
    »Nein.« Ich schüttle den Kopf. Allmählich verliere ich die Kontrolle. »Bitte nehmen … Sie mir das Seroquel … nicht weg. Es hilft. Es … klärt alles … so habe ich mich … noch nie gefühlt.«
    »Sie tauschen die geistige Gefangenschaft gegen eine körperliche ein«, erwidert er kopfschüttelnd. »Das ist es nicht wert. Morgen früh versuchen wir es mit Clozapin.«
    Er will noch einmal von vorn beginnen – ein nied­rig dosiertes neues Mittel. Mir brennen die Augen, ich kann nur noch erstickt flüstern. »Es fängt … wieder von … vorn an.«
    »Wahrscheinlich«, gibt er zu. Das Plastiklächeln ist verschwunden. Ausdruckslos mustert er mich. Mehr Mitgefühl ist von Doktor Little wohl nicht zu erwarten. »Ihre Halluzinationen setzen wahrscheinlich wieder ein, aber das gibt sich. Clozapin ist sehr wirkungsvoll, und Sie sind sicher bald wieder in Form.«
    »Bitte nicht …«
    »Tut mir leid, Michael, es ist zu Ihrem eigenen Besten.« Damit geht er hinaus und ruft Devon, um ihm das neue Rezept für mich zu geben. Es fühlt sich an, als zerfalle ringsum mein ganzes Leben zu Staub.



Am Abend bekomme ich kein Seroquel. Ich liege die ganze Nacht wach, während rings um mich die Welt wabert und zerfließt. Ständig höre ich Geräusche. Der Flur, das Krankenhaus, die ganze Stadt, überall Rufe, Hupen, Kreischen und Heulen. Ich kann nicht feststellen, was davon real ist. Lässt die Wirkung des Mittels wirklich so schnell nach?
    Um kurz vor ein Uhr morgens entdecke ich auf dem Uhrenradio in einer Ecke der Anzeige ein kleines rotes Licht, das ich bisher noch nie bemerkt habe. Beobachtet es mich? Haben sie mich die ganze Zeit zum Narren gehalten mit ihrem Psychogewäsch? Haben sie mir ein­geredet, es sei eine Wahnvorstellung, damit ich unachtsam werde? Nein, ich flippe bloß aus, es steckt nichts weiter dahinter. Aber warum ist der rote Punkt auf einmal dort zu sehen? Ich liege ganz still, um mich nicht zu verraten.
    Klick-klick-klick.
    Am Morgen kommt Doktor

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