Du und ich und all die Jahre (German Edition)
kurzer Blick auf das Meer oder den Tafelberg, der die Stadt überragte. Ich fühlte mich orientierungslos, war beinahe panisch, und meine Aufregung wurde durch Alex’ wilden Fahrstil nicht gerade besser. Ich umklammerte den Türgriff und bremste ständig mit, während wir vom Flughafen durch das Armenviertel Athlone nach Camps Bay rasten.
«Tür verriegeln!», schrie Alex laut, um die Musik zu übertönen, als wir mit quietschenden Reifen an einer Ampel hielten.
«Was?»
«Deine Tür! Verriegeln!» Ich tat, was sie sagte. «Kriminelle!», rief Alex fröhlich.
An der nächsten Ampel erschrak ich beinahe zu Tode, als plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Kind an meinem Fenster auftauchte, mitten auf einer vierspurigen Straße. Ein kleiner Junge, kaum sieben oder acht Jahre alt, mit Shorts und einem schmutzigen T-Shirt bekleidet. Er grinste mich an und hielt einen Eimer in die Höhe.
«Er will die Windschutzscheibe putzen», erläuterte Alex mit genervtem Schulterzucken. «Die stehen an jeder verdammten Ampel.»
Der Junge sah sie mit einem herzzerreißenden Blick an, den Kopf leicht zur Seite geneigt. «Na gut, in Ordnung!», rief sie ihm zu und nickte. «Das Wasser ist so dreckig, dass es die Sache nur schlimmer macht», sagte sie zu mir. Dabei lächelte sie das Kind weiterhin freundlich an. Der Junge kam mit seinem Lappen kaum bis an den oberen Rand der Windschutzscheibe. Als die Ampel grün wurde, fingen die Autofahrer hinter uns wie wild an zu hupen. Alex kurbelte das Fenster herunter, gab dem Jungen einen Zehnrandschein und fuhr los. Er bedankte sich und winkte uns fröhlich hinterher, eine winzige, zerlumpte Gestalt mitten auf der Straße, von den Autos und Lastwagen um ihn herum scheinbar völlig unbeeindruckt.
Ich holte tief Luft und lehnte mich zurück.
«Alles in Ordnung?», fragte Alex. «Freust du dich, dass du hier bist?»
«Natürlich freue ich mich!», antwortete ich, obwohl ich noch immer nicht ganz glauben konnte, dass ich es wirklich geschafft hatte. Die weite Reise für eine Woche Urlaub – die Hälfte meines Kredits für die Studiengebühren war für die Flugkosten draufgegangen – war wahrscheinlich das Waghalsigste, Unverantwortlichste, was ich je getan hatte. Es war eine dämliche Idee, eine, für die ich im folgenden Jahr noch bezahlen würde – im wahrsten Sinne des Wortes. Das war Alex’ Einfluss auf mich. Mit ihr wurde ich leichtsinnig. Wenn sie irgendeinen Plan für gut befunden hatte, konnte sie fast jeden davon überzeugen. Ich fand sie unwiderstehlich.
Seit wir uns in der ersten Semesterwoche begegnet waren, konnte ich ihr nichts abschlagen. Sie war damals um zwei Uhr morgens in einem unanständig kurzen Morgenmantel vor meiner Tür aufgetaucht und hatte gefragt, ob ich Wodka dahätte.
«Ich mache Cocktails», hatte sie verkündet.
«Vielleicht habe ich noch eine Flasche Wein», sagte ich und zog meinen eigenen Morgenmantel, bodenlang und aus Frottee, ein bisschen fester um mich.
«Der tut es auch», hatte sie fröhlich gesagt. «Du bekommst morgen eine Flasche von mir zurück!»
Die bekam ich natürlich nie, aber Alex erschien ein paar Tage später mit einer riesigen Pralinenschachtel und einem Stapel Bücher bewaffnet bei mir im Zimmer und schlug vor, gemeinsam zu lernen. Wir lernten kein Stück, sondern blieben die halbe Nacht auf und erzählten uns unsere Lebensgeschichten. Seitdem waren wir beinahe unzertrennlich.
«Wie geht es unserem Goldjungen?», fragte sie und stellte das Radio leiser, damit ich ihr von Julian berichten konnte.
«Gut. Alles in Ordnung. Er ist unglaublich neidisch. Aber ich soll dich trotzdem lieb grüßen.»
«Er hätte mitkommen sollen.»
«Er ist total pleite, Alex, er konnte es sich einfach nicht leisten.»
«Ich weiß. Aber es wäre so cool, wenn wir alle drei hier wären.» (Dies war eine der vielen Seiten, die mir an Alex so gefielen: Sie mochte Julian genauso sehr wie ich.)
«Was hat er denn heute Abend vor? Will er London unsicher machen?»
«Er will zu einer Party im Heaven, glaube ich, und noch auf ein paar andere. Du weißt ja, wie Julian drauf ist. Er hält sich gerne alle Möglichkeiten offen. Was mich viel mehr interessiert – was haben wir eigentlich Silvester vor?»
«Also, nachher geht es mit der obligatorischen Cocktailparty bei meinen Eltern los.» Sie schaute mich zerknirscht an und grinste. «Wird bestimmt nicht schlimm, wenn auch nicht gerade aufregend, nur ein paar Freunde, ein paar Verwandte, nichts Großes.
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